Die Erweiterungspolitik der EU hat 2018 durch das Beilegen des Namensstreits zwischen Griechenland und Nordmazedonien und durch den Beginn der Verhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien im Frühjahr 2020 wieder etwas an Fahrt gewonnen. Beide Schritte schienen die seit Jahren stärker werdende Erweiterungsmüdigkeit zu vertreiben. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte zuvor im Herbst 2019 noch ein innenpolitisch motiviertes Veto gegen die Aufnahme von Gesprächen eingelegt. Eine aktuelle Studie zur öffentlichen Meinung in Frankreich zur EU-Erweiterung zeigt, dass die EU-Erweiterung am Westbalkan für die meisten Franzosen keine große Rolle spielt und die bestehende Ablehnung der Betrittskandidaten stark mit der Unzufriedenheit über den Zustand der Europäischen Union zusammenhängt.

Erweiterungseuphorie längst verflogen

Die große Erweiterung 2004 um zehn vorwiegend ostmitteleuropäische Mitglieder wurde von vielen europäischen Politikern noch euphorisch als „Überwindung der schmerzlichen Trennung Europas“ (Gerhard Schröder 2004) betitelt. Die Vollendung des europäischen Projektes, die Mitgliedschaft aller Demokratien in Europa in der Europäischen Union, war nun ein großes Stück näher gerückt. Die damalige Begeisterung vieler Entscheidungstragenden ist längst einer Erweiterungsmüdigkeit gewichen. Viele sind der Überzeugung, dass eine Erweiterung der EU um weitere Länder die zukünftige Zusammenarbeit eher behindern würde. Das hängt einerseits mit dem problematischen Abbau der Demokratie in den jüngeren Mitgliedsstaaten Ungarn und Polen nach ihrem Beitritt zusammen. Anderseits konnten in den Verhandlungen mit den anderen Kandidaten, Türkei (Verhandlungen seit 2005), Montenegro (seit 2012) und Serbien (seit 2014) in letzter Zeit auch keine großen Erfolge erzielt werden.

Aufgrund der vorherrschenden erweiterungsskeptischen Haltung in der EU wurde die Entscheidung über den Beginn der Verhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien auf europäischer Ebene und in den einzelnen Mitgliedern kontrovers diskutiert. Infolgedessen trat Frankreich gemeinsam mit den Niederlanden im Herbst 2019 als erneuter „Bremser“ der EU-Erweiterung in Erscheinung. Der Schritt kam damals für viele Beobachter überraschend, da beide Staaten zu dem Zeitpunkt alle Bedingungen der EU erfüllt hatten und vorab positive Signale aus Brüssel gesendet wurden. Viele interpretierten den Schritt des französischen Präsidenten als Botschaft an die eigene Wählerschaft, da das Thema negative Auswirkungen für ihn zu Gunsten der französischen extremen Rechten haben könnte.

EU-Erweiterung: Süden und Osten dafür, Norden und Westen dagegen

Grundsätzlich zeigen Umfragen, dass die öffentliche Meinung in der EU zur Erweiterung zweigeteilt ist. Im aktuellen Eurobarometer vom Juni 2020 waren in der EU durchschnittlich 44 Prozent dafür, 45 Prozent dagegen und neun Prozent haben dazu keine Einschätzung (zwei Prozent gaben keine Antwort). Frankreich befindet sich (Zustimmung 29 Prozent) mit anderen nord-, beziehungsweise westeuropäischen Staaten wie den Niederlanden (32 Prozent), Deutschland (30 Prozent), Österreich (28 Prozent) oder Finnland (27 Prozent) in der Gruppe der erweiterungskritischsten Länder.

Zustimmung für eine zukünftige Erweiterung der EU in 2020.
Grafik: Eigene Darstellung. Quelle EB 93 (2020)

Die Grafik verdeutlicht auch, dass es Mehrheiten für eine Erweiterung vorwiegend in süd- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten gibt. Abgesehen von der Türkei (Zustimmung 41 Prozent), ist die Mehrheit der Bevölkerungen in den Beitrittsländern überwiegend für einen Beitritt zur EU, was vor allem für Albanien (93 Prozent) und Nordmazedonien (78 Prozent) gilt. Knappere Mehrheiten verzeichnen Montenegro (61 Prozent) und Serbien (52 Prozent). Es zeigt sich somit ebenfalls eine gedämpfte, teils abnehmende Beitrittseuphorie in den drei Staaten, die schon länger Verhandlungen mit der EU führen. Wohl auch, da der Glaube an eine baldige Integration in Serbien oder Montenegro zunehmend schwindet.

Wie lässt sich die Abneigung gegenüber der Erweiterung erklären?

Eine Studie, die Anfang Februar vom Open Society European Policy Institute (OSEPI) und dem unabhängigen Thinktank d|part erstellt wurde, untersuchte vertiefend die öffentliche Meinung in Frankreich zur EU Erweiterung am Westbalkan.

Die Studie fand ebenfalls eine geringe Zustimmung der französischen Bevölkerung zur EU-Erweiterung um die Westbalkanstaaten (Zustimmung 22 Prozent) oder die Türkei (zwölf Prozent). Einem hypothetischen Beitritt Norwegens (81 Prozent) oder Islands (75 Prozent) stimmte hingegen die überwiegende Mehrheit zu. Möchte die Bevölkerung Frankreichs somit nur reiche Demokratien des Westens in die EU aufnehmen?

Wenn es nach den knapp 60 Prozent der Teilnehmenden der Studie geht, die eine Erweiterung am Westbalkan ablehnen, ist dies in gewisser Weise der Fall. Diese Gruppe verbindet mit diesen Ländern vor allem ökonomische Schwäche, Korruption sowie ethnische Konflikte und sieht die Vorteile eines Beitritts primär bei den Beitrittsländern.

Die Studie förderte aber auch differenziertere Einstellungen zur EU-Erweiterung zu Tage. Dies zeigt sich etwa bei der Frage, ob eine EU-Erweiterung das eigene Leben beeinflussen würde. Die Mehrheit in Frankreich ist sich sicher, dass sich ihr Leben durch den Beitritt der Westbalkanstaaten nicht verändern würde (Verneinung 53 Prozent), was im Fall einer Aufnahme der Türkei als durchaus wahrscheinlich angenommen wird (Zustimmung 53 Prozent). Die Daten sprechen also dafür, dass der EU-Erweiterung am Westbalkan für die meisten Personen keine große Bedeutung hat.

Die geplante Erweiterung bis 2025 wird vermutlich nicht stattfinden.
Foto: AFP/KENZO TRIBOUILLARD

Liegt das Problem in der Europäischen Union?

Die Studie zeigt außerdem auf, dass insbesondere Personen, die generell eine negative Wahrnehmung von der EU haben, diejenigen sind, die einen EU-Beitritt der Westbalkan-Staaten ablehnen. Diese Gruppe sorgt sich – Macrons Argumenten folgend – vor allem darum, dass der Zusammenhalt innerhalb den gegenwärtigen EU-Staaten nicht gut genug funktioniert und dass angesichts der Krisen der letzten Jahre (Covid-19, Migration, Finanz- und Wirtschaftskrise) auch schon so viele Baustellen innerhalb der EU bestehen. Es zeigten sich viele Teilnehmenden davon überzeugt, dass die EU deshalb nicht bereit sei, neue Staaten aufzunehmen.

Die Ablehnung der EU-Erweiterung hängt somit weniger mit den Beitrittskandidaten selbst zusammen, sondern begründet sich auch darin, dass beispielsweise viele Franzosen Frankreichs Interessen in der EU nicht angemessen repräsentiert oder eine zu geringe Mitbestimmung für Bürger in Europa sehen. Gerade der Umgang der nationalen Politik mit dem Referendum in Frankreich 2005 zur Europäischen Verfassung wurde als Beispiel genannt, um zu verdeutlichen, dass es ein europäisches Demokratiedefizit gibt und das Vertrauen in die politische Elite gering ist.

Die Erweiterungsmüdigkeit spiegelt somit vor allem den Zustand der Europäischen Union wider. Im aktuellen Eurobarometer gaben nur 43 Prozent an, dass sie den Institutionen der Europäischen Union vertrauen (Österreich 44 Prozent, Frankreich 30 Prozent, Deutschland 48 Prozent). Zudem sind 29 Prozent der Bevölkerung der EU der Meinung, dass das eigene Land eine bessere Zukunft außerhalb der EU haben könnte (Österreich 46 Prozent, Frankreich 30 Prozent, Deutschland 18 Prozent). Das Bild der Europäer von der Europäischen Union ist nach wie vor ambivalent und hat, wie die erwähnte Studie gezeigt hat, direkte Auswirkungen auf die Stimmungslage gegenüber der EU-Erweiterung.

Beitritt steht formal fest, Zeitpunkt bleibt offen

Klar ist, dass das Bekenntnis der Europäischen Union zum Beitritt der Westbalkanstaaten seit dem EU-Gipfel 2003 in Thessaloniki („Die Zukunft der Balkanstaaten liegt in der Europäischen Union“) feststeht. Allerdings bleibt der Zeitpunkt weiterhin offen. Die Aussage vom ehemaligen Kommissionspräsident Junker aus dem Jahr 2018, dass die sechs Staaten des Westbalkans bis 2025 beitreten könnten, würde seine Nachfolgerin Ursula von der Leyen heute nicht mehr öffentlich wiederholen.

Geht es nach den Ergebnissen der OSEPI- und d|part-Studie zu Frankreich, scheitert die Unterstützung zur Erweiterung auch an der Wahrnehmung der Europäischen Union durch die eigene Bevölkerung. Der schon lange angestrebte und kontroverse Reformprozess der EU, der durch den jahrelangen Brexitprozess sowie aktuell die Covid-19-Pandemie erschwert wurde, hat somit nicht nur Auswirkungen auf die Europäische Union, sondern auch auf die Erweiterung um weitere Mitglieder. (Tobias Spöri, 9.2.2021)

Tobias Spöri ist Research Fellow bei d|part und lehrt am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.

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