140 Quadratmeter reichen nicht: Rainer Erlinger, langjähriger Moralkolumnist der "Süddeutschen Zeitung", braucht mehr Platz.

Foto: STANDARD/Matthias Cremer

Berlin war einmal eine schöne Stadt für Mieter. Wohnraum war billig und reichlich vorhanden. Doch diese Zeiten sind längst vorbei. Die Lage ist mittlerweile so angespannt, dass Berlin als erstes deutsches Bundesland einen Mietendeckel eingeführt hat. Eigentümer bekommen vom Senat vorgeschrieben, wie viel Miete sie maximal verlangen dürfen.

Dennoch ist es nach wie vor schwierig, eine leistbare Wohnung zu finden. Kein Wunder, dass nun ein besonderer Fall von Entmietung in der deutschen Hauptstadt für Diskussionen sorgt. Der Eigentümer eines Wohnhauses, der in Berlin-Mitte (also in allerbester Lage) vier Mietern kündigte, weil er alle ihre Wohnungen selbst beansprucht, ist Dr. Dr. Rainer Erlinger. Deutschlandweite Bekanntheit hat der Jurist und Arzt durch seine Kolumne "Die Gewissensfrage" erlangt, die er von 2002 bis 2018 im Magazin der "Süddeutschen Zeitung" schrieb.

Fragen der Alltagsmoral

In dieser beriet er wöchentlich Menschen, die sich in einem moralischen Dilemma befanden, beantwortete also "knifflige Fragen der Alltagsmoral" wie: Muss ich auf lieblose Weihnachtspost antworten? Muss ich die Affäre einer Freundin mit einem Rechten tolerieren? Oder: Wie geht man mit Bahnfahrern um, die zwei Sitzplätze für sich beanspruchen?

Die letzte Frage beantwortete er im Mai 2018 recht eindeutig: Man müsse solchen Menschen in vollen Zügen "gehörig den Marsch blasen". Es mache ihn "traurig", dass die Bahn etwas so Selbstverständliches – nämlich dass man nur einen Platz belegen dürfe – überhaupt in ihren Beförderungsbedingungen erwähnen müsse. Zu diesem Zeitpunkt hatte in Berlin eine von Erlingers Mieterinnen, eine heute 59-Jährige, schon ein Kündigungsschreiben erhalten. Ihm sei "durchaus bewusst, dass Sie bereits sehr lange in dem Objekt leben und dort Ihren Lebensmittelpunkt gefunden haben", heißt es in dem Brief, der dem STANDARD vorliegt.

Dennoch müsse die Frau leider ausziehen, denn Erlinger benötige die Wohnung selbst. Er lebe derzeit auf 140 Quadratmeter zur Miete, wolle sich aber vergrößern und benötige daher alle vier Wohnungen des Hauses, die in seinem Eigentum seien.

Gästezimmer benötigt

Die Mieterin erfuhr in dem Schreiben auch, warum alle vier Wohnungen in dem Haus für Herrn Dr. Dr. Erlinger zusammengelegt werden und die bisherigen Mieter weichen sollen: "Mein Mandant empfängt auch gern Gäste, die gelegentlich über Nacht bleiben. Die derzeit angemietete Wohnung verfügt jedoch nicht über ein Gästezimmer, sodass Gäste auf einem aufblasbaren Gästebett im Arbeitszimmer nächtigen müssen; ein für alle Beteiligten unschöner Zustand."

Zudem verfüge er "über eine beachtliche Anzahl Bücher", für die "in den Regalen schlicht kein Platz mehr ist, Platz für neue Regale steht aber auch nicht mehr zur Verfügung". Weiters heißt es: "Der Eigenbedarf meines Mandanten verdringlicht sich von Tag zu Tag." Zudem sei ein Ankleidezimmer geplant, ein Gästebereich, Homeoffice, eine Dachterrasse.

"Großzügig dimensionierte Bibliothek"

In einem weiteren Schreiben vom Juli 2019 wird die Mieterin über Details informiert, wie es mit "ihrer" 65-Quadratmeter-Wohnung, in der sie seit 1999 lebt, weitergehen soll: "In der derzeit noch von Ihnen bewohnten Wohnung plant unser Mandant im vorderen Bereich der Wohnung ein großzügiges Wohnzimmer einzurichten." Sie erfährt zudem, Erlinger benötige "als freier Autor und Kolumnist nach seinen Vorstellungen eine geeignete und entsprechend großzügig dimensionierte Bibliothek".

Mit drei Mietparteien kommt es zu einer außergerichtlichen Einigung, die vierte Mieterin will nicht weichen, was einen Rechtsstreit nach sich zieht. Im Sommer 2020 wird Erlingers Klage vom Amtsgericht Berlin-Mitte abgewiesen. In der Urteilsbegründung heißt es, die alleinige Nutzung des viergeschoßigen Gebäudes stelle einen "derart überholten Wohnbedarf dar", dass eine Beendigung des Mietverhältnisses nicht gerechtfertigt sei. Das Gericht habe dabei berücksichtigt, dass sich das Gebäude mit den vier Wohnungen in einem Gebiet mit einer "unzureichenden Versorgung mit Mietwohnungen zu angemessenen Bedingungen" befinde.

Erlinger geht in die nächste Instanz, da akzeptiert die Mieterin einen Vergleich. Sie muss bis zum 31. Oktober 2021 ausziehen, dafür bekommt sie 112.500 Euro. Sie sagt, sie könne sich mit dem Geld jetzt ja eine Eigentumswohnung kaufen. Reichen würde der Betrag für 13 Quadratmeter. (Birgit Baumann aus Berlin, 8.2.2021)