Ruhe lässt sich auch mit einer Plauder-App finden.

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Es gibt Menschen, die loggen sich auf einer Laber-App ein, um zu schweigen. Das ist so, als ginge man zu McDonalds, um Salat zu essen, oder in ein Fitnessstudio, um sich mal richtig schön zu erholen. Die Idee zum Ruheraum hatte Leander Wattig. Wenn man nicht aufpasst, ersinnt er vielleicht noch ein Kaufhaus mit einem Anti-Konsum-Stockwerk, in dem die Regale absichtlich leer bleiben.

Clubhouse ist eine App, auf der man eine Art Telefonat mit anderen führen kann. Sehen kann man nur ein Profilfoto. Um eine Kakofonie zu verhindern, können nur wenige gleichzeitig sprechen, und es gibt ein Patschehändchen-Symbol, mit dem man anzeigen kann, dass man etwas zu sagen hat. Oder das zumindest denkt. Denn auf der App wird rund um die Uhr erzählt, erklärt, diskutiert, gestritten. Sie wird hier erst seit Jänner genutzt, am 19. Jänner war sie die meistheruntergeladene deutsche iPhone-App.

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Am 22. Jänner gründete Wattig den Ruheraum, der inzwischen berühmt ist. Schweigende Speaker. Auf so einen Blödsinn war in den USA noch niemand gekommen. Schnell waren 150 Menschen da. Jeden Tag spitzten Neue rein, um zu sehen, was da los ist (nichts!). Manche blieben ein paar Stunden, bis mal jemand versehentlich raschelte, Nervenkitzel pur. "Einmal am Tag verschluckt sich einer. Oder man hört den Fernseher", so Wattig.

Es geht erstaunlich diszipliniert zu. Es gab laut Wattig noch keine politischen Ausfälle, keine Pöbeleien. Einmal sagte eine junge Frau "Penis", das gibt natürlich Futter zum Nachdenken. Eine andere fragte: "Wo geht’s denn hier zur Damensauna?" Das fand Wattig lustig, denn die Idee des virtuellen Ruheraums orientiert sich ja an jenen nach der Sauna oder anstrengenden Konferenzen. "Mir gefällt, dass der Flötenbauer neben dem Tagesschau-Sprecher neben der Influencerin mit 1,8 Millionen Followern schweigt. Mir geht es darum, Menschen zusammenzubringen." Einer hat ihm vergeblich 300 Euro geboten, damit Wattig die Stille bricht.

Mit der Zeit kamen immer mehr internationale User dazu, aus der Türkei, China oder Japan. Gemeinsam schweigen kann man auch auf Japanisch. Und sich wundern ebenfalls – wie der Japaner "KuwaYaneda", der twitterte, dass ihm die App "aus irgendeinem Grund" immer den Ruheraum empfehle. Ruheraum "scheint auf Deutsch ‚Toilette‘ zu bedeuten, und als ich den Raum betrat, fand ich einen Haufen seltsamer Deutscher schweigend versammelt". Am komischsten sei jedoch er, "der immer wieder ein und aus geht, um zu sehen, ob sich etwas tut". Eine schöne Vorstellung: 10.000 Kilometer von Wien entfernt fragt sich ein Japaner, wieso tausende Europäer gemeinsam auf einem virtuellen Scheißhäusl sitzen, und prüft regelmäßig nach, ob man nicht doch mal ein Geräusch vernehmen kann. Auf Übersetzungsseiten im Internet wird Ruheraum (korrekt) ins Englische mit "rest room" übersetzt, was allerdings "Toilette" bedeutet.

Kunst oder Systemkritik?

Und was ist das nun? Anarchismus? Kunst? Systemkritik? Humor? Die österreichischste aller Arten, zu netzwerken – effizient und geräuschlos? Oder ein kursorisches, virtuelles Bällebad, in dem Streithansln in Ruhe zu Kräften kommen können fürs nächste Gefecht in den Kommentarspalten?

Wer mit Leander Wattig (39) telefoniert, merkt, dass er kein selbstoptimierter Medienfuzzi ist, sondern Spaß an der Absurdität hat und daran, unterschiedliche Menschen zusammenzubringen. Er ist eher ein digitaler Utopist aus der Buchbranche, der in der DDR aufwuchs. Kollegen beschreiben ihn als "obernetten Typen". Ist das eine Anarchismus-Bewegung? "Kann man so sagen", sagt Wattig. "Der Raum ist fragil. Das macht für mich den Zauber aus. Mir geht es darum, die Gemeinschaft zu kuratieren", sagt Wattig, dem Freunde beim Managen helfen. Anfang Februar übernachteten 900 Menschen im Ruheraum, ließen ihr Handy die ganze Nacht lautlos an und blieben in der App eingeloggt. Rainer Callmund, Clueso, Motsi Mabuse, Bayer Leverkusen, Thomas Gottschalk waren schon da. Am 2. Februar schwiegen mehr als 7.000 User aus aller Welt gemeinsam.

Dadurch kamen Kopisten. Es gibt dutzende Nachahmerseiten, die "Stilles Vernetzen" heißen, weiters "Social Media" oder "Elektromobilität" oder "Ich lese gerade ein Buch und mein Account schweigt". Nur, der Schmäh fehlt den abgekupferten Ruheräumen, weil die Klone konkret benennen, was ihr Zweck sein soll. Wattig bekam auch zig Anfragen von "Marketing-Glücksrittern", Firmen, die sich als zeitgemäß und humorvoll präsentieren wollten. Was tun? Leander Wattig verlangte eine Art Schutzgebühr von 50 Euro, wie er auf Twitter ankündigte.

Am 4. Februar zahlte eine PR-Agentur, die Leute sucht, die, höhö, "wissen, wann sie etwas sagen sollen und wann es Zeit ist, sich zu entspannen". Kein schlechter PR-Stunt. Und obwohl auf der App über nichts mehr debattiert wird als über "Monetarisierung", meldete ihn ein User, mutmaßlich wegen der 50 Euro. Wattigs Account wurde gesperrt. Der Ruheraum, der bis dahin 14 Tage rund um die Uhr lief, musste schließen. "Ich bin schon gesperrt, bevor andere auf der App sind", twitterte Wattig ironisch.

Das hätte das Ende des Ruheraums sein können. Aber Wattig gründete noch am selben Tag mit seinem Zweitaccount einen neuen Ruheraum. "Der Ruheraum ist eine Lebenseinstellung", sagt Wattig. Inzwischen hat sich der Gag, der unverhofft groß wurde, zu einem Zuhause entwickelt.

Stillschweigen

Tausende Schweigende auf einer Kommunikations-App. Das hat Kraft. Das regt zum Nachdenken über Konformität an. Und über das pausenlose Senden einer Gesellschaft. Wattig hat mit seiner Idee die App unterwandert. Denn wie fühlt man sich, wenn man karriereorientiert einen Talk über Kryptowährungen gibt, für den sich 28 Zuhörer begeistern, und 2.800 Menschen hören nebenan lieber der Wand beim Weißsein zu? Vielleicht schoss auch Clubhouse-Mitarbeitern diese Frage durch den Kopf. Der Boom an Schweigeräumen im deutschsprachigen Raum kann Clubhouse nicht entgangen sein. Plötzlich war der zweite Ruheraum von Wattig nicht mehr auf der Startseite, nur noch 120 User konnten ihn finden. "Eigentlich tot, aber auf die nette Art", fasst Wattig es zusammen. "Shadowbanned" nennt man es, wenn Firmen Inhalte von Usern verstecken. Es ist gewissermaßen elegante Zensur, denn nachweisbar ist sie nicht. Die Firma könnte immer argumentieren, der Algorithmus sei eben so oder es handle sich um einen Fehler.

Vielen Nutzern fehlt der Ruheraum. Denn er verkörperte etwas, was vielen fehlt: ein bisschen Schmäh und Dadaismus im Alltag. Es war zuletzt doch alles recht real.

Anarchie? Humor? Im Ruheraum der Plauder-App hören einander tausende Menschen beim Schweigen zu.

(Nora Reinhardt, 9.2.2021)