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Tausende Menschen demonstrierten vergangene Woche in Russland für die Freilassung von Alexej Nawalny.

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Ein autoritäres Regime unter Druck scheut sich nicht vor Gewaltanwendung zum Machterhalt. Seit der Rückkehr des in Russland vergifteten, in Berlin genesenen, gefährlichsten Regimegegners Alexej Nawalny hat es landesweit rund 11.000 Festnahmen gegeben. Die friedlichen Protestierenden, auch zahlreiche Journalisten, wurden im ganzen Land brutal zusammengeschlagen. Die Bilder und Videos über Massendemonstrationen gegen die Verurteilung Nawalnys zu dreieinhalb Jahren Gefängnis, über Menschen bewusstlos am Boden oder andere, mit erhobenen Händen abgeführt und in überfüllte Gefängniszellen eingepfercht, gingen um die Welt.

Der brisante, von Nawalny und seinen Mitarbeitern zusammengestellte und verbreitete Film über ein korruptes Netzwerk um Wladimir Putin und dessen angeblichen Palast am Schwarzen Meer ("die teuerste Residenz der Welt"), der mittlerweile auf Youtube über 100 Millionen Mal gesehen wurde, hat inzwischen ein so starkes Echo ausgelöst, dass Putin sogar im Fernsehen erklären musste, er oder Mitglieder seiner Familie hätten mit diesem Projekt nichts zu tun. Ein wohl beispielloser Vorgang während der bald einundzwanzig Jahre seiner Herrschaft. Den Hintergrund bilden die vom unabhängigen Lewada-Zentrum veröffentlichten, beunruhigenden Zahlen: Der Anteil der Russen, die auf die Frage, welchem Politiker sie vertrauen, Putin nennen, ist auf 29 Prozent gefallen. Ende 2017 lag der Wert noch bei 59 Prozent. Nawalny kam auf fünf Prozent. Vier von zehn Russen vertrauen keinem Politiker.

Längst verpufft ist der Rausch nach der Annexion der Krim und dem anfänglichen Erfolg der Einmischung in der Ostukraine. Die weitverbreitete Korruption, die anhaltende Stagnation der Wirtschaft mit dem Rückgang der Realeinkommen und die schnellen Änderungen im Medienkonsum werden als Gründe für die zunehmende Abwendung vom Putin-Regime angesehen. Die meisten Russen unter 40 bevorzugen die Internet-Websites statt der kontrollierten Massenmedien.

Trotz des außenpolitischen Drucks des Westens und bei aller Bewunderung für den persönlichen Mut Nawalnys und seiner Anhänger darf man die machtpolitischen Realitäten nicht vergessen. Die Angst der unentschiedenen oder enttäuschten Elite vor der Geheimpolizei FSB, dem Rückgrat des Putin-Regimes, ist zu groß. Was die Massen betrifft, so glaubt die Hälfte der Russen sogar, dass Nawalny seine Vergiftung inszeniert hat oder westliche Geheimdienste hinter dem Anschlag stecken. In einem Spiegel-Interview sprach die russische Politologin Tatjana Stanowaja offen aus: "Wenn 150.000 Menschen in Moskau auf die Straße gehen, dann wird die Führung einen anderen Ton wählen. Aber das sehe ich derzeit nicht."

Die Demütigung des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell während seines Moskau-Besuches zeigte, wie wenig sich der Kreml um die Haltung der Europäischen Union schert. Offene Repression ersetzt den Schein der Legalität. Daran würden auch neue EU-Sanktionen nichts ändern. Präsident Putin (68) könnte seit dem Verfassungsreferendum im Prinzip sogar bis 2036 an der Macht bleiben. Seine Herrschaft bedeutet weitere Jahre der wirtschaftlichen Stagnation und politischen Hoffnungslosigkeit. (Paul Lendvai, 9.2.2021)