Strapaziöser als jede FFP2-Maske: In "The Dog Who Wouldn’t Be Quiet" von Ana Katz müssen sich die Menschen mit Glashelm vor der gefährlichen Umwelt schützen.

Foto: Filmfestival Rotterdam

Mit Wasserwerfern und Tränengas ging die Polizei Ende Jänner in Rotterdam gegen randalierende Protestierende vor, die sich mit den Corona-Beschränkungen nicht mehr abfinden wollten. Kurz danach eröffnete die 70. Ausgabe des Filmfestivals, das die niederländische Hafenstadt zu anderen Zeiten als großes Publikumsevent stets mühelos in ein Fest des Kinos verwandelt hat.

Ein sprechendes Bild für unsere verschobene Welt: Die Sphäre der Kultur verkriecht sich in einem virtuellen Innenraum, während sich draußen der Volkszorn entlädt. Das erste große Filmfestival dieses Jahres fand bis Sonntag als reine Online-Ausgabe statt, im Juni plant man einen zweiten, physischen Teil, ähnlich wie die Berlinale.

Eine Woche lang gab es Weltkino zu sehen, begleitet von "Big Talks" mit Filmschaffenden wie der US-Regisseurin Kelly Reichardt, die für ihr Lebenswerk geehrt wurde, oder mit der Newcomerin Dea Kulumbegashvili, die mit dem Soundtüftler Nicolas Jaar über seinen "vitalistischen" Score für ihr Debüt Beginning sprach. Vanja Kaludjerčić, die aus Kroatien stammende neue Festivaldirektorin, hat sich ihren Einstand trotzdem gewiss anders vorgestellt, schließlich lebt ein Festival vom Liveerlebnis und direktem Austausch.

Österreichischer Kurzfilm

In einem ersten Schritt hat sie Sektionen wie den Tiger-Wettbewerb von zehn auf 16 Titel erweitert, um eine größere formale Bandbreite abbilden zu können. Nun wurde nonstop gestreamt, was angesichts der Dominanz einiger Streamingplattformen auch als Lebenszeichen einer viel mannigfaltigeren Branche zu werten ist. Österreich war mit Laura Weissenbergers Kurzfilm Erde essen vertreten, einem assoziativen Reigen rund um einen kolumbianischen Familienverbund. Imaginiertes trifft auf Dokumentiertes, ein Mädchen im Erstkommunionskleid auf eine Frau, die auswandern wollte. Sinnfällig, aber ohne Nachdruck wird von Diskontinuität erzählt.

Corona war in den Filmen höchstens ein trügerisches Echo: Bei Benoît Jacquots Kammerspiel nach Marguerite Duras, Suzanna Andler, konnte man glauben, dass sein reduziertes Setting einer südfranzösischen Villa eine Reaktion auf eingeschränkte Drehbedingungen war. Doch Jacquot filmte sein feingliedriges Drama über eine Frau (Charlotte Gainsbourg) zwischen einer blutleeren Ehe und einem zudringlichen Lover vor der Pandemie.

LUXBOX

An Covid-Zeitempfinden musste man unweigerlich auch in The Dog Who Wouldn’t Be Quiet der Argentinierin Ana Katz denken. Gedreht über sechs Jahre, begleitet der Film lakonisch verspielt einen ziellosen jungen Mann, der nirgendwo Halt findet, bis er eines Tages auf eine politisierte Kommune von Gemüsebauern stößt. Doch das Leben treibt weiterhin Streiche mit ihm: Ein Meteorit fällt auf die Erde, fortan muss er mit Glaskuppel über dem Kopf zur Arbeit – da beschwere sich noch jemand über Masken!

Kaludjerčić und ihr Kuratorenteam hatten viele Regisseurinnen am Start. Eine Entdeckung ist die an der Prager Famu ausgebildete Kosovarin Norika Sefa, die für ihr Debüt Looking for Venera den Spezialpreis der Jury erhielt. Sie erzählt davon, wie sich das Selbstverständnis eines Teenagers mit einer lebenshungrigen neuen Freundin schärft. Rollenbilder verschieben sich, die Sphäre der Erwachsenen wirkt erstickend. Sefa findet für dieses Erwachen einer jungen Frau, das Aufmüpfigsein betörend haptische Bilder.

International Film Festival Rotterdam

Geschlechterverhältnisse und deren notorische Schieflagen bildeten heuer einen der zentralen Bögen in Rotterdam, in der charakteristisch bunten Vielfalt. In Mayday entwirft die US-Regisseurin Karin Cinorre ein feministisches Retro-Fantasyland aus Soldatinnen, die Piloten absichtlich in den Absturz lotsen. Regt sich hier noch Widerstand gegen den Genderkrieg, so wird die erinnyenhafte Täterin im stilisierten Schwarz-Weiß-Drama Black Medusa jeden Aufriss zwanghaft ins Jenseits befördern. Und nicht zimperlich: Das tunesische Regieduo Youssef Chebbi und Ismaël hat eindeutig Giallo-Horror-Kenntnisse.

Wut, ja Rachelust treibt auch den Protagonisten im mit dem Hauptpreis prämierten indischen Beitrag Pebbles an. Der möchte seiner in ihr Heimatdorf geflohenen Frau die Leviten lesen, im Schlepptau hat er seinen Sohn, der sich ihm nur unwillig fügt. In knapp über einer Stunde entfaltet Vinothray P.S. sein minimalistisches, aber intensives Drama in der Steinwüste, in dem sich das Verhältnis der beiden mehrmals auf raffinierte Art verschiebt.

International Film Festival Rotterdam

Kaludjerčić sprach am Ende von der Resilienz der Branche, die auch das Publikum daheim bewies. Dass es an Nachwuchs nicht mangelt, machte das Festival deutlich. Online-Versionen sind derzeit zu einem Gutteil auch Beiträge zu einer vielstimmigeren Öffentlichkeit. (Dominik Kamalzadeh, 9.2.2021)