Warten auf Einlass – über mehrere Häuserblocks hinweg und flankiert von zahlreichen Kamerateams.

Foto: Robert Newald

Wien – Videospiele, Fernsehen, Popcorn. Viel mehr Abwechslung gab der jüngste Lockdown für die drei Jungs aus Ottakring nicht her. Ihre Familien hätten ihnen Treffen untereinander strikt verboten, erzählen sie. Zu sehr bangten diese um ihre Gesundheit. Nun sei jedoch Schluss mit Isolation. Zum einen gehe es bald zurück an die Schule. Zum anderen kehre endlich neues Leben in die Wiener Lugner-City ein.

Beides, Unterricht wie Einkaufszentrum, hätten sie in den sechs Wochen gehörig vermisst, geben die Burschen zu. So sehr, dass sie sich um sieben Uhr früh an der von Verkehr umbrausten Ecke des Centers einfanden, um das Ende der erzwungenen Einsamkeit zu feiern und den wachsenden Zustrom an Kunden zu beobachten. "Wir wollten heute als Erste hier sein."

An der Schwelle zu den Geschäften sieht ein Wirt seinen Stammkunden nach, die an ihm vorbei in die Einkaufshallen eilen. Seit Jänner hielt er die Stellung. 39 Euro habe er an einzelnen Tagen umgesetzt, seufzt er und deutet auf kistenweise abgelaufene Lebensmittel, die auf die Entsorgung warten. Dass er nach dem Neustart des Einzelhandels viel mehr erzielt, bezweifelt er. Wobei es keinem da drinnen besser ergehe. Um 50 bis 70 Prozent werde Ware abverkauft. "Das sagt eh schon alles."

Ohne Angestellte

Rabatt um die Hälfte führe zu Verlusten. Damit bekomme man bestenfalls den Einkaufspreis herein. Miete und Personal blieben offen, rechnet Lianghou Zhu sorgenvoll vor. Mit seiner Frau führt er in der Lugner-City seit vielen Jahren ein Lederwarengeschäft. Angestellte kann er sich seit Umsatzeinbußen von weit mehr als 50 Prozent nicht mehr leisten. Um die Krise zu überstehen, stellt er sich auf 70 Wochenstunden Arbeit ein.

Ein Handelskollege ein paar Ecken weiter sieht jedoch bereits den nächsten Lockdown nahen. "In einigen Wochen ist eh alles wieder zu." Das glaubt auch eine junge Kundin, die sich in die wachsende Menschenansammlung vor einem C&A einreiht. Geradezu verrückt sei es, hier zwischen all den Leuten zu stehen, sagt sie. Aber sie brauche Gewand für ihre Kinder, die aus den alten Sachen rauswuchsen. Und viel Zeit zum Einkaufen werde nicht bleiben.

"Endlich wieder unter Leuten"

"Endlich ist wieder ein bisserl was los", freut sich hingegen ein älterer Mann. An seiner Wurstsemmel kauend, verfolgt er von einer Galerie aus mit Abstand vergnügt das Geschehen. Nicht zum Einkaufen sei er gekommen. Das Gefühl, unter Leuten zu sein, genüge ihm.

Diszipliniert geht es sowohl vor als auch im Erotikgeschäft Orion zu. Eben sind riesige Kartons am Warennachschub eingetroffen. Der Verkäufer berichtet von laufend neuen Lieferungen und treuer Stammkundschaft, die ihm auch in turbulenten Zeiten nicht abhanden komme. Sorge um seinen Job macht er sich keinen. Sein Arbeitgeber habe ihm sogar die im Zuge der Kurzarbeit erlittenen Gehaltseinbußen ausgeglichen.

Neue Abstandsregeln

Statt eines Kunden auf zehn Quadratmetern darf sich seit dieser Woche allein einer auf 20 finden. Was Shopinhaber, die insgesamt kaum mehr als zehn Quadratmeter besetzen, über Sinn und Unsinn der Maßnahmen philosophieren lässt.

Weitgehend entspannter geht es zum Auftakt der neuen Regeln im Lebensmittelhandel zu. Druck, verlorene Umsätze mit Preisabschlägen retten zu müssen, haben Supermärkte keinen.

"Weltfremde Preise"

In der Wiener Mariahilfer Straße, Österreichs größter Einkaufsmeile, ziehen Kunden derweil kopfschüttelnd an anderen Kunden vorüber, die sich in Schlangen vereinigen, die sich wiederum über mehrere Häuserblocks ziehen. Ort der Begierde ist der Diskonter TK Maxx. Aber auch vor Handelsketten wie Zara, Snipes, Pull & Bear staut es sich ordentlich. Österreichische und deutsche Kamerateams flankieren die Menge, auch ein halbes Dutzend Fotografen hält die historische Szenerie fest.

Die Abstände in den Schlangen sind zumeist großzügig, Blockabfertigung erlaubt rasches Vorankommen. Doch nicht alle Wartenden tragen weiße Masken. Händler rundum, in deren Geschäften keineswegs der Bär steppt, zeigen für den Auflauf kein Verständnis. Weltfremde Preise würden da geboten und mit ihnen der Rest der Wirtschaft kaputtgemacht, ärgert sich ein alteingesessener Unternehmer, der das Treiben durch seine Geschäftstür beobachtet.

Händler als Bittsteller

Originalpreise werden von vielen Kunden mittlerweile nicht mehr akzeptiert, ergänzt eine Textilhändlerin, die in einer Seitenstraße in den ersten Stunden nach der Wiedereröffnung keinen einzigen Euro umsetzte. "Wir Händler sind zu Bittstellern geworden." Wer online bestelle, bestehe wiederum auf kostenlosem Versand, was sich jedoch für kleine Betriebe kaum rechne. Zumindest für die Seele sei ein Webshop gut, sinniert die Händlerin. "Er gibt einem das Gefühl, als Unternehmer noch am Leben zu sein."

Auch in der Wiener Innenstadt befürchten viele Händler, dass die Lockerungen der Wirtschaft nur von kurzer Dauer sind und allein Druck aus dem Markt nehmen sollen. Ein wenig Normalität sei erlaubt, ehe es wieder ernst werde, meint eine Unternehmerin resigniert. "Die Devise ist wohl: Gib dem Affen Zucker." (Verena Kainrath, 9.2.2021)