Wer ein Skirennen im Fernsehen mitverfolgt, visiert das rechte untere Bildschirmeck an. Dort werden die Zwischenzeiten eingeblendet, dort erkennt der Laie, wie schnell jemand unterwegs ist. Denn die Athleten trennen oft nur Hundertstel oder wenige Sekunden. Minimale Unterschiede, die für das freie Auge auf der Strecke nur schwer erkennbar sind. Aber es gibt Tricks für ein besseres Zeitgefühl. DER STANDARD hat sie pünktlich zur Ski-Weltmeisterschaft von TV-Experten eingeholt. Schließlich ist es ihr Job, die Zeiten der Profis einzuschätzen.

Schlüsselpassagen

Alexandra Meissnitzer kommentiert im ORF die Speed-Disziplinen der Damen. Die 47-jährige Salzburgerin empfiehlt, sich bei Super-G und Abfahrt auf zwei, drei technisch anspruchsvolle Schlüsselpassagen zu konzentrieren. "Und dann vergleicht man die Linie der einzelnen Fahrerinnen", sagt die Gesamtweltcupsiegerin und Doppel-Weltmeisterin (Super-G, Riesentorlauf) von 1999. Man könne sich an der blauen Streckenmarkierung orientieren. "Die eine fährt für den Schwungansatz hoch rauf zur blauen Linie, eine andere riskiert mehr und setzt den Schwung drei Meter weiter unten an." Bei den Zwischenzeiten bekomme man dann ein Gefühl dafür, welche Linie die bessere Wahl ist.

Alexandra Meissnitzer (Foto von 2017) analysiert für den ORF die Speedrennen der Damen.
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Gleitpassagen eigneten sich kaum für den Vergleich. Unterschiede seien da schwer zu erkennen, selbst für Meissnitzer. "Die meisten fahren ähnlich, die Position in der Abfahrtshocke ist neben der Linienwahl entscheidend."

Aber Achtung: Fahrstile sind verschieden, die engste Linie ist nicht zwangsläufig die beste. "Federica Brignone fährt eine rundere Linie, manchmal auch weitere Wege, dennoch ist sie meist schnell. Sie holt zwar vorm Tor mehr aus, beschleunigt aber zum Tor hin wie keine andere." Mikaela Shiffrin oder Lara Gut-Behrami fahren einen engeren Radius, also direkter, dazu brauche es eine exakte und stabile Technik. Kein gutes Zeichen sei es, wenn der Schnee am Schwungansatz zu sehr aufstaubt. "Dann stellt man entweder quer oder der Druck kommt zu abrupt." Insgesamt denkt Meissnitzer, dass Technikdisziplinen für Laien leichter zu bewerten sind. "Dort sieht man Fehler offensichtlicher."

Der Slalom-Rhythmus

Thomas Sykora ist der Slalom-Experte im ORF. Für den 52-jährigen Niederösterreicher ist entscheidend, dass die Sportler einen guten Rhythmus finden. Wie erkennt ein Laie, ob das gelingt? Für Sykora lohnt sich ein Blick auf die Skiführung. Diese sollte parallel erfolgen. Bei einer V-Stellung bremse der Innenski, eine A-Stellung entspreche dem bekannten Anfängerpflug. Der Abstand zwischen den beiden Brettern sollte konstant sein: "Wenn sich der stets verändert, einmal breiter, einmal schmäler ist, heißt das, dass der Läufer mit der Linie und dem Rhythmus kämpft."

Wenn die Piste in gutem Zustand ist, sollte die Linie "eng bei der Stange sein", sagt der zweifache Slalomweltcupsieger (1997, 1998). Ein halber Meter Abstand könne sich bei 70 Toren summieren. Merksatz für Zeitlupen: "Wenn Läufer die Stange nur noch mit dem Knie berühren, sind sie meistens zu weit weg. Wenn mit dem Schienbein, passt es." Für spätere Startnummern auf der schlechteren Piste gelte eine Ausnahme. "Dann muss man mehr Platz lassen zur Stange, weil man sonst von der ausgefahrenen Linie der Starter zuvor irritiert wird."

Thomas Sykora ist der ORF-Experte im Slalom. Das Bild stammt von 2014.
Foto: APA/Hauser Kaibling/Wolkersdorfer_Gerhard

Der Oberkörper

Zusätzlich können Fans den Oberkörper der Athleten beobachten. Dieser sollte idealerweise im rechten Winkel zum Untergrund stehen. Also im Steilhang weiter vorne geneigt sein als im Flachstück. "Wenn sich der Oberkörper zu weit nach vorne oder nach hinten reinsetzt, kann das zwar noch rhythmisch sein, aber kündigt oft einen Fehler an."

Auch Meissnitzer empfiehlt den Blick auf den im Idealfall ruhigen Oberkörper. Das strahle Sicherheit aus, wie auch abseits des Sports: "Wenn man gut drauf ist, hat man eine andere Körpersprache, selbst beim Gehen." Gerade in Kurven mit Unebenheiten müsse man zentral auf den Ski stehen, um Schläge besser absorbieren zu können. Wenn man sich etwa zu weit nach hinten lehnt, mit dem Becken zu tief wird, sei der Hauptdruck am hinteren Skidrittel und "die zwei Drittel vorne werden unruhig und flattern". Darauf könne man im TV achten.

Der Schwungansatz

Am meisten beachtet Meissnitzer den richtigen Zeitpunkt für den Schwungansatz. Im Riesentorlauf könne der Laie etwa gut erkennen, wenn ein Läufer den Schwung zu früh beginnt. Die Ski haben in diesem Fall zu früh, schon vor dem Tor, zu viel Richtung. Es entstehe eine Driftphase. "Da hat man das Gefühl: Wenn der Athlet jetzt Druck gibt, würde er direkt ins Tor fahren. Er muss mit dem Hauptdruck also noch zuwarten und das kostet Zeit."

Und was ist mit dem berühmten "Laufenlassen der Ski"? Meissnitzer erklärt die Theorie: Angenommen, eine Läuferin fährt auf ein Tor zu, die Ski zeigen bereits in die gewünschte Richtung. Eine Athletin erkenne nun instinktiv, ob sie auch genug Richtung gemacht hat, um das nächste Tor ideal anzusteuern. Das sei der Moment, in dem im Idealfall die Gleitphase beginnt, indem der Kantendruck reduziert wird, der Ski flacher gestellt wird und er bis zum nächsten Schwungansatz läuft bzw. beschleunigt. Das sei mit freiem Auge oft schwer zu erkennen, Meissnitzer sieht sich hier als "Übersetzerin" für die Zuseher.

Sykora vergleicht den ideal getimten Slalomschwung mit Autofahren. "Wenn man zu spät in die Kurve einlenkt, verpasst man den idealen Scheitelpunkt und wird aus der Kurve herausgetragen. Man muss vom Gas steigen und korrigieren. Das Auto wird unruhig, fängt zu schwänzeln an. Am Ende der Kurve muss man dann noch immer lenken, währenddessen andere schon am Gas stehen und auslenken." Das sei im Skisport die hohe Kunst: "Fahre ich zu gerade hin, muss ich korrigieren. Hole ich zu weit aus, ist die Linie zu weit."

Um die Fahrlinien miteinander zu vergleichen, können sich TV-Zuseher an der blauen Lebensmittelfarbe, der Streckenmarkierung, orientieren.
Foto: EPA/VASSIL DONEV

Sykora: "Irren ist menschlich"

In den technischen Disziplinen sind für Sykora die Übergänge vom Steilhang ins Flache und vice versa die Schlüsselpassagen. Hier müsse man richtig dosieren. "Es bringt nichts, wenn man in den Steilhang von Wengen voll reinfährt und beim vierten Tor ein Problem hat."

Beide TV-Experten denken, dass sie mit ihren Zeitprognosen meist richtig liegen. Die Fahrt von der einen zur nächsten Zwischenzeit dauert meist rund 15 bis 20 Sekunden. "Drei Zehntel Unterschied sieht man da meist schon", sagt Meissnitzer. Aber – und das sollte Laien beruhigen – auch Fachleute täuschen sich mitunter und schätzen die Profis nicht immer richtig ein. Meissnitzer beschreibt diese Momente als "Stich ins Herz".

Für Sykora "ist Irren menschlich". Denn ob jemand etwa das Alzerl zu viel Luft an der Stange lasse, also bei der Linie zu viel herschenke, sei schwer zu erkennen. Ebenfalls, ob er die Zehntelsekunde zu lange auf der Kante steht, wo andere schon den Ski laufen lassen. Das könne dann technisch wunderbar aussehen, aber trotzdem langsam sein. Dann hilft nur noch der Blick aufs rechte untere Bildschirmeck. (Andreas Gstaltmeyr, 12.2.2021)