Nadia Shehadeh: "Rückblickend hat er uns tatsächlich sehr genau gesagt, wer er ist und was er tut."

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In einem Instagram-Posting erhob die US-Schauspielerin Evan Rachel Wood vergangene Woche schwere Vorwürfe gegen Brian Warner, besser bekannt als Marilyn Manson: Ihr ehemaliger Verlobter habe sie manipuliert und psychische und sexuelle Gewalt in der Beziehung ausgeübt. Immer mehr Frauen melden sich nun zu Wort, die Manson Übergriffe vorwerfen – Warner selbst bestreitet sie in einem Statement.

Die Soziologin, Autorin und Popkulturexpertin Nadia Shehadeh über Frauenfeindlichkeit im Musikbusiness, #MeToo und Rockmythen, die Täter schützen.

STANDARD: Nach den Vorwürfen gegen Manson beendeten seine Plattenfirma und eine Künstleragentur rasch die Zusammenarbeit, auch aus zwei TV-Produktionen wurde der Musiker gestrichen. Ein Erfolg der #MeToo-Bewegung?

Shehadeh: Mich hat es erstaunt, dass es in diesem Fall so rasch Konsequenzen gab. Noch vor wenigen Jahren hätte ein Label einen so erfolgreichen Künstler wohl kaum fallengelassen. Und ja, diese Entwicklung ist in Teilen sicherlich feministischen Debatten zu sexualisierter Gewalt – und damit auch Kampagnen wie #MeToo – zu verdanken. Lange wurden in der Musikindustrie Täter systematisch geschützt. Geschäftsinteressen standen im Vordergrund, aber auch generell die Auffassung: So sind die exzentrischen Künstler eben. Jetzt haben wir aber einen anderen Status quo. Musiker wie Manson werden zukünftig nicht mehr so leicht aus ihrem Verhalten Kapital schlagen können. Das hat allerdings auch lange gedauert. Offenbar braucht es immer noch mehrere, im besten Fall prominente Frauen, damit Vorwürfe auch Gewicht bekommen.

STANDARD: Manson selbst berichtete schon Ende der 1990er in seiner Autobiografie von Übergriffen, in Interviews schilderte er Gewaltfantasien.

Shehadeh: Rückblickend hat er uns tatsächlich sehr genau gesagt, wer er ist und was er tut. Aber das Rockbusiness ist immer schon sehr großzügig und schützend mit übergriffigen Männern umgegangen. Wir wissen, dass David Bowie als erwachsener Mann Sex mit einem 13-jährigen Mädchen hatte oder dass Steven Tyler eine 16-Jährige schwängerte. Das wird dann aber unter "wildem Lifestyle" verbucht. Diese Männer, die sich hinter Pop- und Rockmythen verstecken, werden immer noch glorifiziert. Hinzu kommt, dass problematische Frauenbilder, Gewaltfantasien und Sexismus fester Bestandteil der populären Musikkultur sind. In den 1990ern, als Marilyn Manson groß wurde, gab es zum Beispiel seinen Rap-Gegenspieler Eminem, der immer wieder davon fantasierte, seine Frau umzubringen. Und Bands wie die Bloodhound Gang, die ekelhaft sexistische Videos drehte. Kritik aus der professionellen Musikrezeption gab es dafür kaum. Da ist immer noch diese Abwehrhaltung: Wer das kritisiert, versteht die Kunst nicht – und hat einfach keine Ahnung von Musik.

STANDARD: Auch Marilyn Manson wurde vielfach als hintergründige Kunstfigur rezipiert.

Shehadeh: Mansons Lyrics und Inszenierungen quollen immer schon über mit frauenfeindlichen, sexistischen, rassistischen und antisemitischen Inhalten – und Fans sind es gewohnt, solche Inhalte zu konsumieren. Perfide ist tatsächlich, dass Künstlern wie Manson lange eine smarte Feinsinnigkeit zugeschrieben wurde. Als hätte er der Gesellschaft den Spiegel vorgehalten, als hätte er ständig problematische Verhältnisse kritisiert – dabei hat er das nie. Er hat diese Gewalt immer nur reproduziert.

Und im Bereich Musik kommt sicher auch ein emotionaler Moment hinzu. Fans und Kritiker*innen springen für ihre Stars trotz allem in die Bresche, weil sie mit den Platten und Konzerten eine persönliche Geschichte verbindet. Es ist immer noch ein Tabu, an den großen Vorbildern zu kratzen. Stattdessen wird schnell den Opfern die Schuld zugeschoben: Warum hat sie sich mit so einem Kerl eingelassen? Man schützt lieber die Täter, als sich mit den Widersprüchen eigener Kulturvorlieben auseinanderzusetzen.

Kritik an Rassismus oder Sexismus in Texten gab es aus der professionellen Musikrezeption kaum, sagt Nadia Shehadeh.
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STANDARD: Könnte dem Popbusiness eine #MeToo-Bewegung erst bevorstehen?

Shehadeh: Es gab ja immer wieder Enthüllungsgeschichten, vor zwei Jahren zum Beispiel auch um den Songwriter Ryan Adams. Da wurde der Fall skandalisiert, dann war Ruhe, und dieses Jahr hat Adams sogar noch relativ unbehelligt ein Album veröffentlicht. Bei Manson ist der Aufruhr schon größer – und jetzt, viele Jahre später, melden sich auch Geschäftspartner und Mitarbeiter zu Wort, die schon lange um sein Verhalten wussten und ihn geschützt haben. Aber da stellt sich natürlich die Frage: Warum haben sie so lange geschwiegen? Es hat anscheinend nicht nur an Solidarität gefehlt – man hat dieses Verhalten vielmehr toleriert, unterstützt und für ganz normal gehalten. Deswegen waren es auch dieses Mal Betroffene selbst, die sich Gehör verschaffen mussten. Mit Social Media und den Kampagnen gegen sexualisierte Gewalt ist das vielleicht ein Stück einfacher geworden, aber es muss erreicht werden, dass Menschen nicht mehr die Augen verschließen, wenn sie Übergriffe beobachten. Die Opfer müssen geschützt werden – und nicht die Täter. (Brigitte Theißl, 10.2.2021)