Ob das auf Dauer nicht saufad wird. Oder ist. Die Frage kommt immer ohne Fragezeichen. Weil die, die fragen, wissen, wovon sie reden: "Sundays are rundays" bedeutet nicht, dass sonst nicht gelaufen oder sonst wie Sport getrieben wird, sondern dass am Sonntag der "Longrun" auf dem Programm steht. "Longruns" sind, was der Name sagt (und ja, irgendwann löse ich auch das Versprechen ein, zu erklären, wieso "joggen" heute als Beleidigung gilt. Ich muss aber erst rauskriegen, wieso), aber vor allem eines: langsam. Deutlich unter Wettkampftempo (zumindest sollte das so sein). Übungen in Geduld und Demut. Und das kann zach werden: allein, bei Nasskaltgrau, ohne "echten" Grund – also bevorstehenden Wettkampf – und sich irgendwann dann halt doch wiederholenden Standardstrecken: Ja, das kann fad werden. Manchmal saufad.

Foto: thomas rottenberg

Nur: Wenn man das zugibt, egal ob sich selbst oder anderen gegenüber, kommt der Moment, in dem der "Dann lass es doch"-Teufel auf der einen Schulter gegen den "Na? Wie viele Kilo dauert Corona schon?"-Kobold auf der anderen gewinnt.

Was da hilft? Mir: Gesellschaft. Nur geht das halt legal nicht. Gruppenlaufen ist immer noch Pfui – und nichtlaufende Lieblingsmenschen, die mitunter am Rad das "Begleitpony" geben, drehen sich bei so einem Wetter im Bett einfach um und murmeln nur: "Bring Croissants mit." Verständlich.

Plan B? Das Spiel, mit dem Eltern früher lange Autobahnfahrten weniger eintönig zu machen versuchten: "Ich seh, ich seh, was du nicht siehst. Und das ist …"

Und plötzlich wird aus einer Standardrunde ein Suchspiel: Was ist anders? Was neu? Denn: Wann haben Sie zuletzt Sängerknaben gesehen? Was machen die eigentlich gerade?

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Natürlich gibt es auch Orte, an denen man weiß, dass man vermutlich etwas – jemanden – sehen wird. Beim Theseustempel im Volksgarten etwa. Meist gibt irgendwer Yogastunden. Ob dann, wie von der Burghauptmannschaft im ersten Lockdown angekündigt, tatsächlich Rechnungen gelegt werden, will ich eigentlich nicht wissen. Oder irgendwelche total berühmten Insta-Mädels "shooten" (was im Grunde weit kommerzieller ist als jede Yoga-Stunde). Oder aber Herr Hsu hält seine allmorgendliche Tai-Chi-Stunde ab. Allerdings müsste man dafür um acht Uhr hier sein: Da findet nämlich – gefühlt immer – Wiens traditionsreichste Freiluft- und Gratis-Gymnastiklektion statt. Jahrelang unterrichtete "Mr Lee", nach seinem Tod übernahm Herr Hsu.

Ob der Platz Tai-Chi-Praktizierende deshalb anzieht oder ob das Feng-Shui hier einfach Tai-Chi bedingt, ist eine Frage von Henne und Ei: Den Mann, der hier diesmal übte, hab ich jedenfalls noch nie gesehen.

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Als Kind habe ich bei "Ich seh, ich seh, was du nicht siehst …" geschummelt. Und Aufgaben gestellt, die ich selbst vorab gelöst hatte: Eine Playmobilfigur hätten meine Eltern vorne, beim Fahren, nicht gesehen – wir hatten sie aber im Fond gut um uns verteilt.

Das Gleiche gilt beim Laufen: dass der Donaukanal Wiens Lockdown-Sportmeile ist, ist kein Geheimnis. Nicht nur wegen der Läuferinnen und Läufer, der RadlerInnen, sondern wegen der 1.000 anderen Trainierenden.

Dass sich auf den öffentlichen Geräten niemand um Abstände, Masken, Gruppenverbote oder Desinfektion schert? Jo eh … Ob das – man schnauft einander beim Assistieren und Absichern ja direkt an – schlau ist, lasse ich mal offen. Aber Skifahren und Eislaufen ist schließlich auch erlaubt – und nicht jeder hat die Kohle, um zum Golfspielen nach Südafrika zu fliegen.

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Vor allem aber geht es auch ein bisserl um Augenmaß und Hausverstand: Bewegung an der frischen Luft ist per se nicht gefährlich. Schon gar nicht, wenn man nicht auf der Stelle tritt, sondern sich fortbewegt, ohne minutenlang im Wind-, Spuck- und Aerosolschatten anderer zu hängen. Sagte nicht ich, sondern Wissenschafter und Wissenschafterinnen, auf die sich die immer verzweifelter werdende Sportveranstalterbranche beruft (zuletzt die Macher des Vienna City Marathon), wenn sie fast flehentlich darauf hinweist, dass das Narrativ von der "Todeszone" rund um Menschen an der frischen Luft schlicht falsch ist.

Aber das kommt nicht an: "Nordisch" walkende FFP2-Masken tragende Pensionistinnen, die zu dritt nebeneinander gehen, ihre Stöcke seitlich wegstrecken und "Abstand, Abstand" brüllen sind auch Teil des Freiluftalltags. Gänsemarsch? Unzumutbar: "Da simma zu weit auseinander, mia miassn redn!"

Nein, ich muss und will nicht alles verstehen, was in Menschen vorgeht.

Foto: thomas rottenberg

Lieber fokussiere ich auf schöne Botschaften: Corona bringt die Menschen an die Luft. Macht ihnen Beine. Auch wenn dieses Bild auf den ersten Blick gar nicht so wirkt: Glauben Sie, dass an einem nasskaltwindigen Februarmorgen des Vorjahres auch nur halb so viele Leute auf der "gelben Brücke" unterwegs gewesen wären?

Ich weiß es: Nein. Never ever. Und zwar auch, wenn man die im Bild in der Nebelsuppe Verschwundenen nicht mit zählt.

Die Hoffnung eines Freundes, dass sich durch die intensivere Begehung der echte Name des einstigen Nordbrückenersatzprovisoriums durchsetzen könnte, teile ich aber nicht: Das da ist die "gelbe Brücke" – kein Mensch sagt Steinitzsteg.

Foto: thomas rottenberg

Viele Leute glauben, die Insel sei eintönig und nur im Sommer ein Sportplatz. Zweimal falsch. Genauso wie die Annahme, dass Beachvolleyball nur bei Temperaturen über 20 Grad funktioniert. Der Irrtum, dem die meisten da aufsitzen, dürfte gerade hier mit der immer noch Sport-aus-der-Zuschauerperspektive der meisten Österreicherinnen und Österreicher (und aller hier lebenden Menschen) zusammenhängen. Bei diesem Wetter macht Gaffen nämlich eindeutig wenig Spaß – und bevor Sie mir jetzt irgendwelche Träume von "heißen" Bikini-Babes oder dynamischen Beach-Muskelmännern im Sand andichten, bleibe ich höflich und laufe einfach weiter: Der Schelm ist nämlich immer, was er (oder sie) denkt.

Foto: thomas rottenberg

Außerdem gibt es auf der Insel noch ganz andere Sportlerinnen und Sportler zu bestaunen. Bei wirklich jedem Wetter: Elisabeth und Georg etwa.

Die beiden haben sich dem Europäischen Schwertkampf verschrieben. Wie wohl allen Kampfkunst- und Kampfsportenthusiasten und -innen bleibt ihnen nur der Weg ins Freie, wenn sie ihre Skills nicht komplett einrosten lassen wollen.

Dass die wirklich beeindruckend und faszinierend sind, erkennt dann auch der Laie. Dass die beiden mir – fast entschuldigend – erklärten, dass irgendwas an ihren Schwertern nicht wirklich authentisch sei, fand ich ehrlich, aber auch spaßig: So muss es normalen Leuten gehen, die mich über Laufschuhe diskutieren hören: "Dings" eben.

Foto: thomas rottenberg

Aber zurück zu "Ich seh, ich seh …": Wer glaubt, an einem Ort wie der Donauinsel nichts Neues finden zu können, hat einfach nicht genau genug hingeschaut.

Da wäre zum Beispiel die Sache mit den Bewässerungsrohren. Dass man die fein säuberlich gestapelt lagert: Jo eh. Nur: Wieso finden etliche immer wieder ihren Weg in Astgabeln? Steckt da gärtnerischer Sinn dahinter? Werden sie als Sitzbänke zweckentfremdet? Oder übt hier jemand balancieren?

Für den Lauf der Welt ist das natürlich vollkommen wurscht. Aber solche Details geben noch der abgelatschtesten Runde einen kleinen Spin.

Foto: thomas rottenberg

Weil man – ich zumindest – dann plötzlich überall genauer schaut. Und Dinge entdeckt, die seit Jahren oder Jahrzehnten da stehen, die man aber nie beachtet oder wahrgenommen hat: Wüssten Sie, wo das "Friedensrätsel" steht? Respektive dass dieser Stein so heißt?

Und wenn ja: Welche Schule hat ihn hier wann aufgestellt? Was ich besonders fein finde: Während anderswo dann nur "Sacre Coeur, 1995" auf der Infotafel stünde oder allerhöchstens der Name der initiierenden Lehrerinnen, sind hier alle Beteiligten aufgezählt. So gehört sich das.

Foto: thomas rottenberg

Wo ich hingegen bis heute nicht weiß, wann und wieso das Werk entstand, wer es geschaffen hat und wieso es auf die Insel gestellt/abgeschoben wurde, ist bei diesem Teil.

Vermutlich ließe sich das eh leicht rauskriegen. Vielleicht ist ja irgendwo sogar eine Tafel versteckt. Aber ich fürchte, der ging es längst so wie den abgesägten Extremitäten einiger Figuren und ihren Genitalien.

Und die Frage, ob sich diejenigen, die so eine Plastik an einem so ungeschützt-exponierten Ort aufstellen, nicht schon vorher darüber im Klaren sein müssten, dass jede Arbeit an diesem Ort Beschmierer und Vandalen magisch anziehen muss (und eine mit exponierter Nacktheit erst recht), wäre darauf ohnehin nicht beantwortet. Ist Kunst einmal im öffentlichen Raum aufgestellt, interessiert sie die Kunstaufsteller nicht mehr: Beim Eröffnungsfoto passt ja alles.

Foto: thomas rottenberg

Aber: "Focus on the good." Dass man auf der Insel fein am Ufer des Flusses entlang "trailen" kann, wissen einige. Aber kaum jemand tut es. Schade – denn so versäumen Sie etliche schöne Blicke. Nicht nur auf kleine Buchten und Nehrungen am Strom, wo man Fische, Vögel und anderes Getier beobachten kann, sondern auch Momente wie diesen: Die beiden Herren paddelten fröhlich durch den Nebel. "Bis zur Nordbrücke", riefen sie mir zu. Dass das flussaufwärts ein schönes Stück Arbeit ist, weiß ich. Trotzdem antwortete ich; "Ach, nicht bis in die Wachau? Schwach!" Vom Wasser kam: "Da sind wir natürlich heute Früh losgefahren." Wir lachten. Ich winkte. Sie paddelten.

Foto: thomas rottenberg

Wer auf der Insel die Pfade entlangläuft oder -spaziert, weiß auch das: Es gibt auch kleine, der großen Insel vorgelagerte Inseln und Halbinseln. Auf Erstere kommt man nur meist, wenn man ins Wasser steigt. Aber manchmal liegt genug Holz im Schilf und der Wasserstand ist so niedrig, dass man doch rüberkommt. Denn die Steine, die Schiffe und Boote fernhalten sollen, sind einen Tick zu weit auseinander, um sicher hinüberzukommen.

Auf dem oberen der beiden Eilande, gegenüber dem Hilton, war ich deshalb bisher noch nie – diesen Sonntag aber lag das Altholz im Wasser günstig.

Foto: thomas rottenberg

Warum ich rüber wollte? Weil ich neugierig bin. Ich weiß, dass auf der Donauinsel Menschen leben. Mehr als Sie glauben. Aber auch auf den kleinen Inseln sieht man immer wieder von weitem mögliche Spuren von "Besiedlungen". Aber ich will nicht nur vermuten.

Und: Bingo. Neben ein paar Feuerstellen, im Dickicht aufgetürmten Habseligkeiten, zusammengerollten Isomatten und zum Festland hin strategisch schlau zusammengeschobenen Buschsichtschutzwänden findet man hier auch andere "Beweise" – aber weit und breit keine Bewohner.

Ob ich da keine Angst hätte, fragte mich unlängst eine Freundin. Nein, keine Sekunde: Als Mann lebt man in anderen Bedrohungsszenarien. Außerdem ist das hier Wien, nicht "Vikings". Ich habe in meiner (kurzen) Kampfsportzeit gelernt, dass – wenn keine Dritten gefährdet sind – Davonlaufen immer die schlauere Option ist. Und: Ich habe in solchen Settings noch nie erlebt, dass man mit Menschen, denen man respektvoll und höflich entgegentritt, nicht irgendwie klarkommt.

Foto: thomas rottenberg

Die zweite, größere Insel gegenüber dem Hilton ist fußläufig allerdings nicht erreichbar. Wohl deshalb ist sie anders besiedelt. Schon vor Jahren gab es hin und wieder Zeitungsberichte über Menschen, die dort quasi sesshaft sein sollen. Unter anderem soll es einmal einen Schweizer Bootsnomaden für längere Zeit hierher verschlagen haben.

Allerdings standen in jener Zeit andere, auffälligere Zelte und auch etwas fast Jurtenartiges dort. Und es war nur zu sehen, wenn man wusste, wo man hinschauen musste.

Jetzt sind es aber zwei Zelte in gedeckteren, fast camouflagefarbigen Designs, die nur sieht, wer weiß, wie und wo er oder sie schauen muss: "Ich seh, ich seh, was du nicht siehst."

Foto: thomas rottenberg

Oder manchmal auch: nicht sehen willst. Wirklich freiwillig lebt niemand so. Schon gar nicht im Winter – auch wenn mich der Geruch des offenen Feuers hier kurz überlegen ließ, mich einfach kurz dazuzusetzen.

(Kleiner Querverweis: Den Mikrokosmos unter der Tangentenbrücke habe ich unlängst hier beschrieben. Aber das ist nur ein Steinchen in einem großen Mosaik, das kaum jemand wahrnehmen will.)

Foto: thomas rottenberg

Und auf der Hauptallee war dann die Welt wieder heil und schön und wohlhabend-glücklich: Auch das ist Wien.

Genau das ist es, was ich an Wien, an solchen Läufen so liebe: dass man auf engem Raum, in einem kurzen Zeitfenster und ohne Hilfsmittel so gut wie alle Facetten des Lebens sehen und erleben kann.

Dass da Welten und Universen aufeinanderprallen, die nur einen Berührungspunkt haben: die Stadt.

Zu erleben, dass das kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch ist, dass es die Gleichzeitigkeit von Schön und Schmerzhaft nicht nur geben kann, sondern vielleicht sogar geben muss, um ein Ganzes zu erhalten, ist für mich die Lektion, die Botschaft solcher Läufe.

Das macht aus faden, trägen Routinerunden ein "Mehr". Das, was Laufen wertvoll macht: "Ich seh, ich seh, was du nicht siehst: das Leben."

(Hier gibt es die Route auf Garmin Connect und Strava.)

(Tom Rottenberg, 9.2.2021)

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