Betörende Bilder einer hochnäsigen Queen: "Marie Antoinette" im Festspielhaus St. Pölten.

Olivier Houeix

Wird die symbolische Bedeutung von Marie Antoinette, jener Tochter der österreichischen Kaiserin Maria Theresia, die 1793 in Paris ihren Kopf verlor, unterschätzt? Der Vergleich mit Kim Kardashian, wie ihn Kanye West einmal versucht hat, hinkt natürlich, ist aber nicht ganz aus der Luft gegriffen. Denn die berüchtigte Vergnügungssucht der Habsburgerin verleiht dieser bis heute den heimlichen Rang einer Schutzheiligen aller Partymaniacs und exzessiven Hedonisten auf diesem Planeten.

Malandain Ballet Biarritz

Kein Wunder, dass diese Märtyrerin der Unterhaltungskultur immer wieder vor den Vorhang gezaubert wird. Jetzt gerade etwa ist auf der Webseite des Festspielhauses St. Pölten die Marie Antoinette-Interpretation des französischen Choreografen Thierry Malandain zu sehen. Das Ballett hätte am 13. Februar seine Österreichpremiere gehabt, doch diese wurde vom Virus verblasen.

Hierzulande ist Malandain (61) kein Unbekannter: 2015 waren zwei seiner Arbeiten an der Wiener Volksoper zu sehen. Dortselbst wurde vor rund einem Jahrzehnt auch ein Marie Antoinette-Ballett in der Choreografie von Patrick de Bana präsentiert, und erst 2019 hat sich Mei Hong Lin am Musiktheater Linz in einem großen Tanzstück mit der umstrittenen Gattin von Louis XVI. befasst.

Ein Stoff für die Spaßkultur

Der Stoff zieht offenbar. Nicht nur beim Tanz, sondern auch in Theater, Musical und Film, wie etwa Sofia Coppola 2006 mit reichlich Kostümpomp bewies. Natürlich wäre ein Ballett über, sagen wir, das schillernde Leben der anarchistischen Feministin Emma Goldman wesentlich interessanter. Aber Goldman, die auch in der Revolution das Recht auf Tanz und Vergnügen nicht missen wollte, war halt keine Königin. Und sie behielt ihren Kopf. Im Gegensatz zur Goldmanns abenteuerlicher Biografie kuschelt die Marie-Antoinette-Geschichte wesentlich weicher mit dem Klatsch-Genre der globalisierten Spaß- und Wellnesskultur.

Am Schluss des Balletts von Thierry Malandain ist – Pardon für den Spoiler – ein hässliches Metallgeräusch über den Köpfen von Marie Antoinette und ihrem Gatten zu vernehmen. Das erscheint dem Publikum dieser Tage unter Umständen als Metapher auf unsere Corona-bedingt etwas amputierte Partygesellschaft. So konnte es der Choreograf zwar nicht gemeint haben – sein Stück wurde vor Ausbruch der Pandemie an der Opéra Royal du Château de Versailles uraufgeführt –, aber bekanntlich erweitern sich die Bedeutungsspektren von Kunstwerken im Lauf der Zeit.

Bubble der Königin

Unverändert geblieben ist allerdings die Wirkung der Sympathie, die Malandain seiner Marie Antoinette entgegenbringt: Ludwig XVI. erweist sich als Sexmuffel, sie kompensiert das auf pastelliger Bühne mit luxuriösem Entertainment, umgibt sich mit einer Schar von Gespielen, tanzt weltvergessen ganz in ihrer Blase. Und siehe da: Auch die Bubble dieser Königin lässt sich ganz leicht auf die soziologischen Erscheinungen der Gegenwart beziehen.

Der Choreograf hat den Part der Protagonistin an die wunderbar sensible Claire Lonchampt aus seiner tänzerisch hochklassigen Truppe Malandain Ballet Biarritz vergeben. Marie Antoinette hatte sich weder bei Hof noch in der Bevölkerung beliebt gemacht. Lonchampt übersetzt die biestige Arroganz, die der realen Königin nachgesagt wurde, nachsichtig in eine edelcharmante Hochnäsigkeit, mit der sie das Publikum in die Qualen der illustren Fadesse am Königshof hineinzieht.

Traumschlösser

Die große, verwunderte Frage – was denn so anrührend an den Luxusproblemen an sich unbedeutender Machtgeschöpfe ist – findet die schon öfter gültige Antwort: Weil jene, die sich als unbedeutend empfinden und daher Kings und Queens sein wollen, mit jedweder Illusion allzu gern in irgendwelche Traumschlösser gebeamt werden.

Hier bei Malandain findet dieses Spiel mit dem Narzissmus des Publikums zu betörenden Bildern und anmutigen Tänzen im Stil der Ballett-Neoklassik ohne Spitzenschuhe. Die anregend kräftige und drängende Musik dazu stammt von Joseph Haydn und Christoph Willibald Gluck. (Helmut Ploebst, 10.2.2021)