Armeeangehörige während der Spanischen Grippe im Spital Olten im Kanton Solothurn.
Foto: A. & G. Zimmermann, Genf

Was geschieht, wenn man bei Maßnahmen gegen die Ausbreitung einer Seuche zu zögerlich handelt, lässt sich gut am Verlauf der Spanischen Grippe vor über 100 Jahren ablesen. Die Umstände ähneln den aktuellen Bedingungen unter Corona und auch die Reaktionen der damaligen Behörden gleichen den aktuellen Schlingerkursen, die manche Länder verfolgen. Ein interdisziplinäres Forschungsteam hat deshalb die Spanische Grippe im Schweizer Kanton Bern mit der aktuellen Covid-19-Pandemie verglichen. Das Resultat lässt düstere Entwicklungen in den kommenden Wochen befürchten.

Ideale Fallstudie

Rund 25.000 Todesopfer forderte die Spanische Grippe zwischen 1918 und 1919 in der Schweiz. Sie gilt daher auch als größte demografische Katastrophe in der neueren Geschichte des Alpenlandes. Evolutionsmediziner, Historiker, Epidemiologen und Geografen der Universitäten Zürich und Toronto analysiert bereits seit einigen Jahren historische Ausbreitungsdaten influenzaähnlicher Erkrankungen während der Jahre 1918 und 1919 im Kanton Bern. Nachdem der Kanton von der Spanischen Grippe besonders schwer getroffen wurde und gleich zu Beginn der Pandemie im Juli 1918 die Meldepflicht einführte, sei er als Fallstudie ideal, so die Wissenschafter.

Die Ergebnisse der nun in den "Annals of Internal Medicine" veröffentlichten Arbeit zeigen Parallelen zur aktuellen Situation: In der ersten Welle im Juli und August 1918 griff der Kanton Bern relativ rasch, vehement und zentral ein. Die Behörden beschränkten Versammlungen und schlossen Schulen, was nicht ohne Folgen blieb. "Wir sehen an den Zahlen, dass diese behördlichen Maßnahmen – ähnlich wie heute – assoziiert waren mit einem Rückgang der Infektionszahlen", sagt Kaspar Staub, einer der Erstautor vom Institut für Evolutionäre Medizin der Uni Zürich.

1918: Fatales Zögern und Demonstrationen

Als die ersten Welle im September 1918 abflaute, hob der Kanton Bern alle Maßnahmen wieder auf, was sich als großer Fehler erweisen sollte: Nach nur kurzer Zeit kam es zu einem Wiederanstieg der Fälle, der im Oktober 1918 in eine zweite, deutlich heftigere Welle mündete. Zu Beginn der erneuten Ausbreitung der Spanischen Grippe reagierte der Kanton viel zögerlicher als bei der ersten Welle. Aus Angst vor neuerlichen wirtschaftlichen Konsequenzen überließen die Behörden diesmal die Verantwortung für Maßnahmen mehrere Wochen lang den einzelnen Gemeinden.

"Diese abwartende und dezentrale Herangehensweise war fatal und hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die zweite Welle umso stärker wurde und länger dauerte", sagt Peter Jüni, Erstautor von der University of Toronto. Darüber hinaus kam es kurz nach dem Gipfelpunkt der zweiten Welle im November 1918 zum Landesstreik mit sozial- und arbeitsrechtlich motovierten Demonstrationen und vor allem auch größeren Truppenzusammenzügen. Diese Ansammlungen sowie eine anschließende Lockerung des Versammlungsverbotes bei viel zu hohen Fallzahlen gingen mit einem enormen Wiederanstieg der Erkrankungen einher. Letztlich waren rund 80 Prozent der gemeldeten Erkrankungen und Todesfälle dieser zweiten Welle zuzuordnen.

Die Geschichte wiederholt sich

Für einen Vergleich mit heute haben die Wissenschafter die wöchentlichen Fallzahlen der Coronavirus-Pandemie 2020 in der Schweiz herangezogen. Die zweite Welle hat sowohl 1918 und 2020 fast in der gleichen Kalenderwoche begonnen, und die zögerliche Reaktion der Behörden war ähnlich. "Zwar gibt es zwischen den beiden Pandemien auch wesentliche Unterschiede, aber die wachsenden Parallelen zwischen 1918 und 2020 sind bemerkenswert", sagt Staub. Die Studie zeigt zudem auf, dass Erfahrungswissen aus vergangenen Pandemien – beispielsweise zu den Herausforderungen und zum Umgang mit Folgewellen – eigentlich vorhanden wäre.

"Covid-19 hat Krebs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen als Todesursache seit Anfang November 2020 weit überholt und ist in der Schweiz somit seit rund drei Monaten die häufigste Todesursache", sagt Jüni. Vor dem Hintergrund dieser im internationalen Vergleich hohen Sterblichkeit während der zweiten Welle und der drohenden dritten Welle aufgrund von Virusmutationen aus England, Südafrika und Brasilien könnten die Lektionen aus der Vergangenheit zu einem Umdenken von Behörden und Öffentlichkeit beitragen, hoffen die Forscher. (red, 14.2.2021)