"Mit einem bestimmten Bündel an Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie wählen wir kein bestimmtes Zieltempo, bei dem wir dann einfach bleiben können", sagt Andreas Steinmayr von der Universität Innsbruck im Gastkommentar.

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Wann können wir wieder aufs Gas steigen, wann müssen wir auf die Lockdown-Bremse treten?
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In einem Leitartikel beklagt Andreas Schnauder den Absturz der österreichischen Wirtschaft als Folge überzogener Lockdowns und argumentiert, wir hätten für den Schutz der Gesundheit zu hohe Kollateralschäden in Kauf genommen. Die Lockerungen sind ihm zu zart (siehe "Österreich auf dem Pannenstreifen").

Eine Verringerung des allgemeinen Geschwindigkeitslimits von 100 auf 80 km/h würde zu 20 Prozent weniger Verkehrstoten auf Freilandstraßen führen. So besagt es eine Berechnung des Verkehrsclubs Österreich. Die Entscheidung zwischen einem Tempolimit von 100 versus 80 ist also auch eine Abwägung zwischen dem Schutz von Menschenleben und anderen Interessen, wie etwa in kürzerer Zeit von A nach B zu kommen.

Ähnlich wird auch in der Covid-Krise argumentiert. Die Einschränkung von Freiheitsrechten zugunsten des Schutzes von Gesundheit und Menschenleben geht manchen zu weit, und sie wollen das Tempolimit anheben. Anderen geht sie nicht weit genug. Die Abwägung, ob uns offene Schulen oder 100.000 Arbeitslose weniger x Tote pro Monat mehr wert wären, mag brutal erscheinen, aber sie ist im Kern unvermeidbar. Solche Entscheidungen werden von der Politik laufend getroffen, wie im obigen Beispiel der Tempolimits.

Auf die Bremse steigen

Im Kontext der Pandemiebekämpfung ist diese Überlegung aber in ihrem Ansatz nicht richtig gedacht. Mit einem bestimmten Bündel an Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie wählen wir kein bestimmtes Zieltempo, bei dem wir dann einfach bleiben können. Wir wählen, ob und wie stark unser Auto beschleunigt. Und diese Beschleunigung behalten wir dann bei, fahren also immer schneller und schneller, und unser Auto fliegt früher oder später aus der Kurve.

Wenn ein Bündel an Maßnahmen einen Reproduktionswert R(eff) von größer eins zur Folge hat, eine infizierte Person im Durchschnitt mehr als eine Person ansteckt, dann beschleunigen wir immer weiter. Es stellt sich kein Gleichgewicht zwischen einer bestimmten Maßnahme X und der Anzahl der Spitalspatienten oder Covid-Toten ein, sondern deren Vervielfachung in immer kürzeren Abständen. Wenn wir also einen verheerenden Unfall – wie einen Kollaps des Gesundheitssystems – vermeiden wollen, müssen wir irgendwann zwingend wieder auf die Bremse treten.

Schlechte Sicht

Schnauder schreibt im Kommentar auch: "Zudem muss die Frage erlaubt sein, warum Österreich nicht längst die Intensivbettenkapazitäten deutlich aufgestockt hat, wenn das der entscheidende Engpass ist." Ein Ausbau der Intensivkapazitäten kommt einer Vergrößerung des Kurvenradius gleich. Damit schaffen wir es dann durch die nächste Kurve. Unser Auto beschleunigt allerdings immer weiter, und bei der übernächsten Kurve kracht es dann. Veränderungen der Spitalskapazitäten sind also nur kurzfristige Lösungen. Bei R(eff) > 1 kommen wir dann trotzdem ans Limit, nur etwas später. Genauso offenbart das von manchen vorgebrachte Argument, die aktuell freien Intensivkapazitäten würden Einschränkungen nicht rechtfertigen, dass wiederum nur bis zur nächsten Kurve gedacht wird.

Am besten für die Wirtschaft ist es, das Auto mit effizient wirkenden Bremsen auszustatten, die wenig Schaden verursachen. Umfassendes und intelligentes Testen, Kapazitäten und Effektivität des Contact-Tracing erweitern, Analyse vorhandener Datenbestände für bessere Entscheidungsgrundlagen, eine gezielte Verteilung des knappen Impfstoffs sind einige Möglichkeiten, die von Expertinnen und Experten immer wieder genannt werden. Allerdings funktionieren diese Bremsen nur bei entsprechend geringen Geschwindigkeiten gut. Wir müssen also so weit abbremsen, dass wir auf einer unübersichtlichen, kurvenreichen Straße bei schlechter Sicht mit diesen Bremsen zurechtkommen, ohne dass kleine Geschwindigkeitserhöhungen – wenn es steiler bergab geht, wie jetzt durch die neuen Mutationen – gleich zu einem neuen Beschleunigungskreislauf führen.

Keine halbherzigen Lösungen

Für das scharfe Abbremsen haben wir die Lockdown-Bremse. Diese zu drücken ist aber schmerzhaft, und wenn wir sie verwenden müssen, dann muss den Autoinsassen auch unmissverständlich klargemacht werden, dass es darum geht, das Auto schnell (fast) zum Stillstand zu bringen. Halbherzig auf diese Bremse zu steigen führt zu fast genauso großen wirtschaftlichen Schäden, aber bei einem viel längeren Bremsweg. Aber wenn unser Auto dann steht, können wir mit unseren effizienten Bremsen hoffentlich eine erneute Beschleunigung verhindern.

Wir sollten uns daher nicht nur mit Abwägungen beschäftigen, die am Ende kurzfristiger Natur sind und in einer zermürbenden Abfolge von Gasgeben und Bremsen enden. Wir sollten nicht darüber nachdenken, das Tempolimit zu wählen, denn dies können wir nicht. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir langfristig keine Beschleunigung zulassen. Und langfristig gedacht, löst sich dann auch der Zielkonflikt zwischen Wirtschaft und Pandemiebekämpfung auf. (Andreas Steinmayr, 11.2.2021)