Reflexion und Ausbruch: Der harte Alltag und die körperliche Arbeit auf dem Land ließen viele Vertreter der Naiven Malerei in fantastische Welten flüchten. Ein surreales Beispiel: "Blühende Stiefel" von Franjo Klopotan.
Foto: Thomastik-Infeld GmbH

Fast windradgroße Blüten wachsen auf dem Baum, auf der saftigen Wiese grasen flauschige Schafe, und der strahlend blaue Himmel wird nur am Horizont von einem Wolkenschleier getrübt. Doch plötzlich kommt etwas ins Wanken, der im Gras liegende Mann gerät in Schieflage. Das Paradies verflüchtigt sich, die Idylle verrät sich als Traum.

Die Realität der kroatischen Malerin Mara Puškarić-Petras sah nämlich bedeutend anders aus: Früh verwitwet, lebte sie in einfachen, bäuerlichen Verhältnissen. Ihr Leben war von harter körperlicher Arbeit geprägt, der Zugang zu Bildung aussichtslos. Erst spät begann sie zu malen und sich die heile Welt zu erschaffen, die ihr zeitlebens verwehrt geblieben war.

Puškarić-Petras ist eine von insgesamt 31 Künstlern und Künstlerinnen – wobei neben ihr nur zwei andere Frauen gezeigt werden – in der neuen Sonderausstellung Naiv.? Naive Kunst aus der Sammlung Infeld im Museum Gugging. Damit läutet das Haus im internationalen Art Brut Center in Maria Gugging in der Gemeinde Klosterneuburg sein 15-jähriges Bestehen ein.

Begabte Autodidakten

Das Fragezeichen im Titel der Schau verweist auf die Schwierigkeit, Naive Kunst von verwandten Genres wie der Art Brut abzugrenzen. Die Ausstellung versucht jene fließenden Übergänge zu anderen Stilrichtungen offenzulegen. Die Bandbreite Naiver Kunst ist so üppig wie ihre Bildinhalte selbst.

Angelehnt an die Volkskunst, ist das alltägliche Leben (meist in ruralen Gegenden) Ausgangspunkt und Hauptthema der Werke. Oft sind es Einblicke in ein einfaches Leben, das wie bei Puškarić-Petras ins Tagträumerisch-Fiktionale abdriftet, oft aber auch ins Fantastische bis Surreale kippen kann. Manchmal ist es die Projektion des Innenlebens, manchmal Flucht aus der Realität. Oft wurden die Künstler von der tatsächlichen Umgebung inspiriert: karge Landstriche, Dörfer, Natur, Tiere. Neben harter Arbeit nutzten sie ihre Freizeit für das künstlerische Werken, wie Holzschnitzereien, meist war es aber Malerei. Aufgrund der Rollenverteilung blieben Frauen deutlich unterrepräsentiert.

Wie auch die Art Brut oder die Outsider Art wird die Naive Kunst von Autodidakten geschaffen, keiner der gezeigten Künstler genoss eine akademische Ausbildung.

"Fünf Grazien am Bach" von Slavko Stolnik.
Foto: Thomastik-Infeld GmbH

Anfänge in Kroatien

Die Privatsammlung, die von dem bekannten Musiksaitenhersteller Peter Infeld und seiner Mutter Margaretha Infeld Mitte der 1960er-Jahre aufgebaut wurde, verfügt über die größte Kollektion Naiver Kunst in Österreich. Johann Feilacher, künstlerischer Direktor des Museum Gugging, kuratierte die Ausstellung gemeinsam mit der Leiterin der Sammlung Infeld, Yordanka Weiss. Insgesamt werden über 120 Werke gezeigt, alles Leihgaben aus der Sammlung.

Darunter befinden sich Werke internationaler Vertreter, wobei der Schwerpunkt auf Positionen aus dem heutigen Kroatien liegt. Dort etablierten sich ab den 1930er-Jahren um die Schule von Hlebine einige der klassischen Vertreter der Kunstströmung.

Der Erste war Ivan Generalić, den der Zagreber Kunstprofessor Krsto Hegedušić als jungen Bauern kennenlernte, sein künstlerisches Talent erkannte und zu fördern begann. Wie drastisch sich Generalić über die Jahrzehnte stilistisch entwickelte, zeigen Gegenüberstellungen aus Früh- und Spätwerk.

"Pferdchen" von Ivan Generalić.
Foto: Thomastik-Infeld GmbH

Hinterglasmalerei

In dem frühen Aquarell Im Garten der Schweine porträtierte er einen Bauern bei der Arbeit. Die Elemente sind flächig, die trostlose Winterlandschaft wirkt erstarrt. In dem mehr als 50 Jahre später entstandenen Pferdchen hingegen sind es kräftige Farben, fantastische Motive: Vor einem herbstlichen Wald galoppiert ein weißes Pferd durch die Luft. Fast muss man an ein Einhorn denken.

Zusätzlich zu den veränderten Motiven ist es auch die Technik, die den Wandel so eindrücklich macht. Als typisch für die Naive Kunst gilt, dass sie auch auf traditionelle Praktiken zurückgriff: Generalić verwendete wie viele andere der präsentierten Künstler Hinterglasmalerei. Bei dem traditionellen Verfahren wird direkt auf das Glas gemalt, wodurch die Farbe extrem lebhaft wirkt.

Allerdings muss dabei verkehrt gedacht werden, erklärt Feilacher. "Was zuerst gemalt wird, befindet sich später ganz vorne an der Scheibe. Im Nachhinein kann nichts mehr korrigiert werden."

"Traum der Truthähne" von Franjo Klopotan.
Foto: Thomastik-Infeld GmbH

Surreales auf Weinrot

Durch die weinroten Wände und das sparsam, aber gezielt eingesetzte Licht kommen die oft sehr farbenfrohen Gemälde in der Ausstellung noch stärker zur Geltung. Betört von der Atmosphäre, den Szenen- sowie Stilsprüngen, kann man von einer Welt in die nächste wechseln. Obwohl manche Motivwelten Ähnlichkeiten zu anderen Kunststilen aufweisen, ist nicht zu belegen, ob die Künstler jene auch kannten.

Da sind gottgleiche Blumen in Pastellfarben, nackte Frauen in Neonfarben oder brutale mittelalterliche Szenen, die an Hieronymus Bosch denken lassen. Neben Künstlern aus Slowenien, Frankreich oder Deutschland ist mit Fritz Opitz ein Österreicher vertreten, der selbst im Gugginger Haus der Künstler gemalt und volkstümliche Lebensweisheiten verfasst hatte. In jede Ecke setzte er ein Edelweiß.

Wirklich surreal wird es in den Phantasmagorien von Franjo Klopotan. In Traum der Truthähne starren zwei der gefiederten Wesen auf einen Pfau mit verführerisch-menschlichen Beinen. Sie stehen in einer düsteren Landschaft, nur karge Baumstämme sind da im Dunst zu erkennen. Doch: Über ihnen schwebt ein Topf mit ausgestreckten Oktopusarmen. Darin wartet eine paradiesische Welt: bunte Häuser, blühende Bäume und natürlich ein weißes Pferdchen. (Katharina Rustler, 11.2.2021)