Der armenische Premierminister Nikol Paschinjan befindet sich derzeit in einer schwierigen politischen Situation. Seinem Team ist es nicht gelungen, mit einer Reihe akuter Herausforderungen fertig zu werden, was direkt zu einem Machtkonflikt und einer institutionellen Krise geführt hat.

Paschinjan enttäuscht Erwartungen

In Folge der „Samtenen Revolution“ von 2018 ruhten anfänglich hohe Hoffnungen auf den Reformkräften, nicht nur im Land selbst, sondern auch in der EU. Nun aber haben der verlorene Krieg in Karabach zusammen mit einer vagen und inkonsistenten Außenpolitik, einschließlich einer übermäßigen Machtkonzentration, die bereits im vergangenen Jahr sichtbar wurde, das Vertrauen der Öffentlichkeit in Paschinjan untergraben. Die lokalen Oppositionskräfte wurden dagegen gestärkt. Gleichzeitig haben sich die derzeitigen Behörden aufgrund ihrer Unfähigkeit, ernsthafte politische und sozioökonomische Reformen durchzuführen, grob verkalkuliert, obwohl Paschinjan in seinen Versprechungen die Absicht äußerte, den Staat gründlich umzubauen.

Premierminister Paschinjan in Moskau.
Foto: Reuters/Sputnik

Dies entsprach dem, was die Öffentlichkeit von Anfang an von ihm erwartete. Im Endeffekt aber beschränkten sich die Reformen vielfach auf den demonstrativen Kampf gegen Bestechung und Korruption. Die Oppositionsparteien haben das Regierungsprogramm letztlich heftig kritisiert, weil es keine Struktur hat, weil es den wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen des Landes nicht gerecht wird und weil es keine Mechanismen und Zeitvorgaben zur Erreichung der Ziele enthält.

Die politische Schwäche der Reformkräfte zeigte sich exemplarisch bei dem Versuch, das unkontrollierbare Verfassungsgericht zu reformieren und seinen Vorsitzenden Hrayr Tovmasjan zu entmachten. In diesem Zusammenhang griff Paschinjan fast die gesamte ehemalige Regierungselite direkt an. Bereits im Sommer 2019, als das Verfassungsgericht eine der Beschwerden der Anwälte des ehemaligen armenischen Präsidenten Robert Kotscharjan an die Venedig-Kommission und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte schickte, verstand Paschinjan dies als persönliche Herausforderung.

Unterstützt von der Soros-Stiftung (Open Society Foundation/OSF), leitete er die Verfassungsreform ein. Paschinjan erklärte dabei offen seine Absicht, das eigensinnige und illegitime Verfassungsgericht loszuwerden, da es nicht das Vertrauen der armenischen Gesellschaft genieße. Kurz vor Einleitung der Reformen stellten Vertreter der OSF dann aber fest, dass die neue Regierung angeblich zu schwach auf Angriffe der Gegner der Verfassungsänderungen reagiert.

Armenien in der Verfassungskrise

Das Ergebnis dieser Konfrontation war eine Verfassungskrise unter Beteiligung der Europäischen Union. Während der Beratungen über die Reform beschuldigte Paschinjans Entourage den Präsidenten der Venedig-Kommission, Gianni Buquicchio, wiederholt der Korruption. Dabei spielte er auf seine Kontakte zur früheren armenischen Regierung und sein Interesse an der Erhaltung der Autorität des Verfassungsgerichts von Armenien an. Da Paschinjan aus politischen Erwägungen heraus entgegen der Empfehlungen der Venedig-Kommission Änderungen am Grundgesetz des Landes veranlasste, verdächtigte ihn die EU der Abweichung von europäischen Standards. Insgesamt ist es Paschinjan kaum gelungen, korrupte Beamte zu entlassen.

Die enorme öffentliche Desillusionierung über die Kapitulation in Karabach facht das politische Debakel nun weiter an. Im Ergebnis versuchen Vertreter der alten Elite die Dynamik zu nutzen, wieder die Macht zu erlangen. Erst kürzlich trafen sich die Ex-Präsidenten Kotscharjan und Sersch Sargsjan sowie die Führer der wichtigsten Oppositionsparteien, um weitere Maßnahmen zu besprechen, die sie ab dem 20. Februar gegen Paschinjan ergreifen wollen.

Die Revolution in Armenien 2018.
Foto: AP Photo/Sergei Grits

Das autoritäre Gesicht von Paschinjan

Aus Angst, gestürzt zu werden, hat der amtierende Premierminister begonnen, harte, autoritäre Methoden gegen friedliche Demonstranten anzuwenden. Seit der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens für Berg-Karabach am 10. November 2020 gab es zahlreiche Protestaktionen und Straßenkundgebungen in Jerewan und anderen Städten, im Zuge derer der Rücktritt von Paschinjan gefordert wurde. Mehrere hundert Demonstranten, darunter führende Oppositionelle, wurden von der armenischen Polizei wegen ihrer Teilnahme an den Protesten festgenommen. Paschinjans Bemühungen, die Macht zu behaupten, stehen dabei im wachsenden Widerspruch zu den Ideen der "Samtenen Revolution" von 2018, die ihn letztlich mit Reformversprechungen und der Betonung europäischer Werte an die Macht gebracht hatte. 

Aus heutiger Perspektive scheint es nun so, als ob die Machtergreifung von Anfang an Paschinjans wichtigstes Ziel war. Seine deklarierte Absicht, ein westliches Demokratiemodell zu importieren, ist nicht nur gescheitert, sondern er sieht sich nun auch dem Vorwurf ausgesetzt, das alte Unrechtsystem lediglich mit einem neuen ersetzt zu haben. 

Paschinjans Reformprozess war von Anfang an von Schwierigkeiten und Widersprüchen gekennzeichnet. Letztlich waren es aber vor allem die politischen Dynamiken in Folge der enormen Verluste Armeniens im 44-tägigen Krieg gegen Aserbaidschan im November 2020, die das totale Fiasko von Paschinjans Innen- und Außenpolitik offenbarten. Die daraus resultierende innere Gewalt hat das Potential, die demokratischen Träume der armenischen Nation nachhaltig zu zerstören. Ob zukünftige Reformanstrengungen unter einer neuen politischen Führung erfolgreicher sein werden, bleibt abzuwarten. Die anhaltende Krise hat derweil das Ende der Ära Paschinjan längst eingeläutet. (Elkhan Nuriyev, 15.2.2021)

Elkhan Nuriyev ist ein langjähriges Expertenmitglied der Study Group on Regional Stability in the South Caucasus des Partnership for Peace Consortium am George C. Marshall European Center for Security Studies in Garmisch-Partenkirchen. Im Jahr 2019 war er als Humboldt Senior Fellow am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin. Im Jahr 2020 hatte er als Eastern Europe-Global Area Fellow an der Universität Leipzig gearbeitet.

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