Ein Grund, warum das Land Oberösterreich genauer wissen wollte, warum es zu regionalen Covid-19-Häufungen kam – zum Beispiel im Bezirk Rohrbach, wo das Foto im dortigen Klinikum aufgenommen wurde –, war, eine drohende Überlastung des Spitalsbereichs in Zukunft bewusster verhindern zu können.

Foto: APA/OÖG

Es war ein Weltrekord, allerdings ein negativer, in pandemischen Zeiten höchst unrühmlicher: Der Bezirk Rohrbach in Oberösterreich verzeichnete Mitte November 2020 die weltweit kritischste Covid-19-Infektionslage. Nirgendwo sonst steckten sich so viele Menschen mit dem Sars-CoV-2-Virus an wie in dem Mühlviertler Bezirk mit seinen rund 56.500 Einwohnerinnen und Einwohnern. Die Sieben-Tage-Inzidenz, die angibt, wie viele Menschen in einer bestimmten Region in sieben Tagen neu positiv getestet wurden, und zwar bezogen auf 100.000 Einwohner, lag in Rohrbach bei 1.475, der Österreich-Schnitt betrug 528.

Warum? Keine Ahnung, überall. Was ist da los, dass es in Rohrbach so extrem viele Corona-Neuinfektionen gibt und in anderen Bezirken nicht? Das war die Frage, die sich nicht nur die lokalen Behörden stellten und stellen lassen mussten – und auf die sie keine Antwort hatten. "Wir wissen es schlicht nicht", sagte damals die Bezirkshauptfrau Wilbirg Mitterlehner zum STANDARD.

Landesregierung nutzt wissenschaftliche Expertise

Da hätten es die Oberösterreicher natürlich auch so machen können wie die Tiroler, wo erst dieser Tage recht freihändig mit Infektionszahlen jongliert wurde. Die Landesregierung in Linz aber wählte einen anderen Weg, indem sie aktiv Rat bei der Wissenschaft suchte, auch und vor allem, um die drohende Überlastung des Gesundheitssystems in Zukunft bewusster verhindern zu können. Es wurde also eine epidemiologische Studie über die Sars-CoV-2-Inzidenz in den 15 oberösterreichischen Bezirken und den drei Statutarstädten des Landes, Linz, Wels und Steyr, in Auftrag gegeben, die mehr über die lokal so unterschiedliche Gemengelage in der Pandemie herausfinden sollte.

Foto: Hutter/Kundi - Zentrum für Public Health, Med-Uni Wien

Am Freitag, just am Morgen nach der abendlichen Entscheidung der Ampelkommission, Oberösterreich, so wie schon zuvor Wien, auch von Rot auf Orange herunterzuschalten, wurde die dem STANDARD vorliegende Studie in einem Hintergrundgespräch präsentiert – von Landeshauptmannstellvertreterin Christine Haberlander (ÖVP), die auch für Gesundheitsagenden zuständig ist, und einem der Studienautoren, dem Wiener Umweltmediziner Hans-Peter Hutter.

Studie zeigt Korrelationen, keine ursächlichen Zusammenhänge

Hutter und sein Kollege am Zentrum für Public Health der Med-Uni Wien, der Epidemiologe Michael Kundi, führten eine sogenannte ökologische Studie durch, die anhand vorliegender aggregierter Daten zum Infektionsgeschehen prüft, ob bestimmte demografische oder sonstige Merkmale der Bezirke mit der Häufigkeit Sars-CoV-2-positiver Fälle in Zusammenhang stehen. Diese epidemiologische Studienart ermittelt Korrelationen mit auf Bezirksebene verfügbaren möglichen Einflussgrößen, kann aber nicht nachweisen, ob diese ursächlich sind. Sie liefert jedoch Hinweise auf mögliche Ursachen, die in weiterführenden Analysen erhellt werden müssten.

Ausgewertet wurden die Infektionsdaten für den Zeitraum 1. Juli bis 31. Dezember 2020, und zwar auf Basis der Daten aus allen Bezirken zu den Kategorien Bevölkerung in den Altersklassen 1. Lebensjahr, 3. bis 5. Lebensjahr, 6. bis 17. Lebensjahr, 65 Jahre, Ausländeranteil, Personen ausländischer Herkunft, Einwohnerdichte, Bevölkerungsdichte sowie Agrarquote 2018. "Wir haben uns faktenbasiert angeschaut, welche demografischen Faktoren zur jeweiligen Infektionsentwicklung beigetragen haben", erklärt Hutter im STANDARD-Gespräch.

Was also ist herausgekommen?

  • Kinder: Beim Säuglingsanteil (Einjährige) war ein Einfluss auf die Inzidenz wegen der geringen Unterschiede zwischen den Bezirken ohnehin kaum anzunehmen, schreiben die Autoren, und es wurde auch keiner gefunden. Hinsichtlich der Anteile von Kindern im Vorschulalter (3 bis 5 Jahre) sowie im Schulalter (6 bis 17 Jahre) gab es ebenfalls keinen statistisch signifikanten Zusammenhang mit der maximalen Sieben-Tage-Inzidenz.

  • Senioren/über 65-Jährige: Hier wurde eine "tendenziell negative" Korrelation zwischen dem Anteil der Senioren in einem Bezirk und der maximalen Sieben-Tage-Inzidenz sichtbar. Das heißt: Je höher der Anteil an Personen über 65, umso niedriger die Infektionshäufigkeit. Diese Korrelation war aber statistisch nicht signifikant. Ähnliche Zusammenhänge ergaben sich auch in anderen Bundesländern. Eine mögliche Erklärung: "Das könnte darauf zurückgehen, dass sich Senioren eher an die Empfehlungen zum Transmissionsschutz halten."

  • Ausländeranteil bzw. Personen ausländischer Herkunft: Es fand sich kein Hinweis, dass "die Ausländer" an den hohen Infektionszahlen "schuld" sind. Das lässt sich aus gleich zwei statistisch signifikanten Zusammenhängen ableiten. Denn es zeigte sich laut Studie, "dass mit zunehmendem AusländerInnenanteil die maximale Sieben-Tage-Inzidenz signifikant abnimmt". Ähnlich hoch war die Korrelation beim Anteil der Personen ausländischer Herkunft. Übersetzt heißt das: Je mehr Ausländer im Bezirk, umso weniger Corona-Ansteckungen. Das gilt im Übrigen auch für die Zahl an Hospitalisierungen und für die Todesfälle.

    Die Kategorie Ausländer hat sich überhaupt als besonders aussagekräftig erwiesen, schreiben Hutter und Kundi: "Von den in der Untersuchung der einzelnen möglichen Einflussgrößen als aussichtsreich für eine Prognose der maximalen Sieben-Tage-Inzidenz ausgewählten Variablen erwies sich lediglich der Ausländeranteil als unabhängiger Prädiktor. Es ist bemerkenswert, dass 74 Prozent der Unterschiede in der Inzidenz auf Unterschiede im AusländerInnenanteil zurückgehen."

    Allerdings warnen sie vor vorschnellen Schlüssen: "Inwiefern hier eine Kausalität besteht, zum Beispiel, weil sich etwa Ausländerinnen und Ausländer eher an die empfohlenen Maßnahmen halten, oder ob andere Faktoren, die mit dem Ausländerinnen- und Ausländeranteil korreliert sind, den Ausschlag geben, kann auf Basis dieser Analyse nicht entschieden werden."

  • Agrarquote: Ein signifikant positiver Zusammenhang ergab sich hingegen zwischen der Agrarquote, dem Anteil der Beschäftigten in der Land- und Forstwirtschaft, und der maximalen Sieben-Tage-Inzidenz. Je mehr Menschen also in einem Bezirk im landwirtschaftlichen Bereich tätig sind, umso höher waren die Zahlen positiv getesteter Personen. Fast ebenso stark war der Zusammenhang mit der Zahl der im Spital aufgenommenen Personen und der Zahl der Verstorbenen, sodass dieser Zusammenhang nicht auf die Teststrategie zurückgeführt werden kann.

  • Einwohnerdichte bzw. Bevölkerungsdichte: Dicht besiedelte Stadt ist gleich Corona-Herd, dünn besiedeltes Land ist ein "Safe Space" in der Pandemie? Nein. Das Gegenteil hat sich herausgestellt. Je dichter besiedelt, umso weniger Corona-Fälle. Zwischen Einwohnerdichte (gemessen in Bezug auf die tatsächlich besiedelten Areale einer Raumeinheit) und Corona-Infektionshäufigkeit zeigte sich nämlich ein signifikant negativer Zusammenhang. Das gleiche Bild, nur etwas weniger stark ausgeprägt, ergab sich mit den Daten zur Bevölkerungsdichte (Einwohner pro Quadratkilometer). Wo viele Menschen leben, war die Corona-Infektionshäufigkeit also niedriger als in dünner besiedelten, ländlichen Regionen.

    Wie das? Hutter: "Es könnte sein, dass viele Menschen in den Städten denken, wo so viele Menschen leben, läuft man sich dauernd über den Weg und steckt sich leichter an, also verhalten sie sich vorsichtiger – und stecken sich daher seltener an. Während auf dem Land der gegenteilige Effekt möglich ist: Die Leute denken sich, hier ist viel Platz, man begegnet sich eh nicht so oft und kann sich daher auch nicht so leicht anstecken – und prompt passiert genau das. Außerdem spiegelt die Einwohnerdichte die Agrarquote wider. Je geringer die Dichte, je verstreuter die Menschen leben – und das ist für agrarisch-dominierte, nichturbane Gebiete typisch –, umso mehr geht das Infektionsrisiko nach oben."

    In der Studie heißt es dazu: "Dieses Ergebnis legt nahe, dass in ländlich geprägten Regionen die bekannten Maßnahmen zum Infektionsschutz (AHA-Regel et cetera) weniger ernst genommen beziehungsweise weniger sorgfältig umgesetzt werden." Diese Annahme sollte aber durch weitere, auf Personen gestützte Untersuchungen geprüft werden.

  • Bildungsstand: Auf Wunsch der Landesregierung wurde zu Jahresbeginn dann noch die Kategorie Bildungsstand (Pflichtschule, Lehrabschluss, BMS, Matura, Uni/FH) analysiert. Da fand sich eine leicht positive Korrelation mit dem Anteil derer mit einem berufsbildenden mittleren Schulabschluss (BMS) und ein negativer mit dem Anteil an Menschen mit Uni- oder FH-Abschluss. Das dürfte, so heißt es in der Studie, mit der Tatsache im Zusammenhang stehen, dass der BMS-Absolventen-Anteil hoch positiv mit der Agrarquote korreliert, es könnten darunter also viele mit einem Agrarschulabschluss sein, vermuten Hutter und Kundi. Gleichzeitig ist in Bezirken mit hoher Agrarquote der Anteil an Uniabsolventen geringer.

  • Mortalität: Große regionale Unterschiede zeigten sich auch bei den Covid-19-Sterblichkeitsdaten, allerdings korrelieren diese nicht sehr hoch mit der Infektionshäufigkeit. Die Spannweite der Mortalität pro 100.000 Einwohner und Tag reicht von 39,4 in Steyr-Stadt bis zu 153,9 in Rohrbach. In Linz betrug sie 71,6.

Was lässt sich aus den nun erstmals vorliegenden Daten ableiten? "Wir liefern damit ein paar Hinweise, wo man im Hinblick auf den Infektionsschutz ansetzen könnte. Obwohl mit diesem Studientyp keine Annahmen über Ursachen geprüft werden können, zeigen die Ergebnisse ein konsistentes Bild, das Defizite in Infektionsschutzmaßnahmen nahelegt", erklärt der Epidemiologe Hutter: "Es ergeben sich Hinweise, wo es noch eher an Bewusstsein für die Pandemie mangelt und wie man die Präventionsmaßnahmen zieladäquat und adressatengerecht an unterschiedliche Bevölkerungsgruppen herantragen sollte." Wenn man etwa aus den Daten ablesen könne, dass Urbanität und hoher Ausländeranteil bisher zu niedrigen Infektionszahlen geführt haben, "dann hat es wenig Sinn und Effekt, noch mehr Energie in mehrsprachige Aufklärung et cetera hineinzustecken, weil sich da epidemiologisch wenig abspielt. Man sollte die Ressourcen umschichten, um die Genauigkeit in der Kommunikation zu verfeinern."

Jedenfalls würden die ersten Analysen zeigen, schreiben die Studienverfasser am Schluss, "dass es wünschenswert wäre, weitere Daten zu erheben, um genauere, fundierte Grundlagen zur Ableitung von Maßnahmen bereitzustellen". (Lisa Nimmervoll, 12.2.2021)