Schonungslos authentisch schreibt Margit Schreiner: "Erinnerungen sind nicht statisch, je weiter sie zurückliegen, desto häufiger verändern sie sich, verlieren oder gewinnen an Bedeutung."

Foto: Patricia Marchart

Ein Memoir über die Kindheit, wo im Titel "Kriegserklärungen" steht, erregt sofort die Neugier des Lesers, und nicht nur das: Man stolpert selbst in die eigene Kindheit zurück, in Ängste und Ungehörigkeiten, die einen bis heute begleiten.

Das Leben, so Schreiner, wird ja nicht erst mit der Pubertät spannend und gefährlich, oder vielmehr die Pubertät beginnt mit dem siebten Lebensjahr, dem Eintritt in die Schule. Von da an ist alles anders: "Wer vorher unverletzbar war, wird auf einmal verletzbar, wer stark war, dem wird schnell beigebracht, dass auch der Stärkste untergehen kann."

Vorbei die sorglose Zeit! Nun sitzt man hinter der Schulbank und hat ordentlich zu sein, muss zum Beispiel für den Staatsfeiertag mit Buntstiften rot-weiß-rote Fahnen malen. So fängt es jedenfalls an und mündet in den alles bezeichnenden Satz, der in Margit Schreiners Buch gleich auf der ersten Seite steht: "Man nennt das den Ernst des Lebens."

Verbale Einschüchterung

Hat man das nicht selbst noch so im Ohr, als man in die Schule kam: "Jetzt fängt der Ernst des Lebens an!"? Im Gespräch bekundet Margit Schreiner, dass diese verbale Einschüchterung von allen Seiten gefallen sei, und damit ging es schon los: "die ständige Bevormundung, Beurteilung, Zurechtweisung und Einengung", täglich sei die Enttäuschung gewachsen.

1959 – das verflixte siebte Lebensjahr! – kommt Margit Schreiner, aufgewachsen in Linz in der "Vöestsiedlung", in die Volksschule: Sie wiegt 16 Kilo, hat eine Topffrisur und aufgrund ausgefallener Milchzähne einige Zahnlücken. Und nicht nur dass sie ständig den blöden "Ernst" zu spüren bekommt, muss sie eine Frustration nach der andern über sich ergehen lassen.

Eines Tages will sie auf dem Nachhauseweg für einen Schilling hundert Stollwerck kaufen. Doch wenn ein Stollwerck zehn Groschen kostet, gehen sich die erträumten hundert nicht gut aus. "Und jetzt gehe heim und übe fleißig rechnen!", sagt die unsympathische Frau an der Kasse. Auf die Enttäuschung folgt auch noch die Demütigung.

Scham und Gesellschaft

Die erlebt man in der Schule ohnehin oft genug: "In der Religionsstunde hatte ich es nicht gewagt, während des Morgengebets aufs Klo zu gehen, sodass sich schließlich eine Lache zu meinen Füßen bildete. Alle Kinder zeigten auf mich. Ich stritt alles ab." Oder wenn einen niemand von den anderen Kindern zum Spielen ruft und die Mutter dauernd fragt: Warum gehst du nicht in den Hof? "Es war so peinlich!"

Natürlich erleben auch die anderen ihre Niederlagen. Zum Beispiel "Basti mit den blonden Locken und den blauen Augen aus dem Nachbarhaus", der eines Tages ausreißt – aber die Flucht endet schon am Linzer Bahnhof, denn Basti möchte die Fahrkarte mit Steinen bezahlen ...

Zu den Zumutungen gehören dann auch noch schlechtes Gewissen und Strafen, wenn man etwas ausgefressen hat. Bei Margit Schreiner waren es sanfte, dennoch unangenehme Ermahnungen durch die Mutter, andere Kinder wurden verdroschen, bekamen Hausarrest, mussten scheitelknien, und am allerschlimmsten: "Hans Brandlmüller durfte zwei Wochen lang nicht Fix und Foxi lesen."

Wie sehr braucht man das zum Erwachsenwerden, frage ich Margit Schreiner, die überzeugt ist, dass sich das Gehirn jede Abweichung vom Normalen merke und "Niederlagen besonders gut". Scham sei geradezu essenziell. "Rotwerden zum Beispiel ist ja eine vegetative Reaktion und Scham hat eine soziale Komponente. So lernt man die Regeln der Gesellschaft schmerzhaft kennen. Ich glaube, wem zu früh oder zu spät nichts peinlich ist, läuft Gefahr, sich zu einem Trump zu entwickeln."

Dann lieber sich der Niederlagen bewusst sein, sie gar dankbar hinnehmen. Und trotzdem im Widerstand bleiben: "Innerlich formulierte ich Wort für Wort meine Kriegserklärung an alle Kassiererinnen, Eltern und Lehrer." Schließlich muss man mit all den Zumutungen, die das Leben ab sieben für einen bereithält, auch umgehen lernen. "Eine Siebenjährige", kann man im Buch lesen, "ist grundsätzlich im Kriegszustand. Da heißt es raus ins feindliche Leben."

Ängste

Kein anderer Lebensabschnitt ist tatsächlich so prägend: Im Alter zwischen sieben und zehn, schreibt Margit Schreiner, "machen wir unsere wichtigsten Erfahrungen, was soziale Kontakte angeht (Wettpinkeln, Marterpfahl, Kriegspfad), sexuelle Praktiken (Doktorspiele, Analphasen, Wettpinkeln), philosophische Exzesse (Himmelfahrt, Märtyrertum, Wettpinkeln) und Machtgefüge (ungerechte Eltern, blonde Kinder bevorzugende Lehrerinnen und noch einmal Wettpinkeln)."

Es ist auch die Zeit, wo der Wirtschaftsaufschwung auch in die kleinbürgerlichen Haushalte einzieht: der erste Staubsauger, ein Schnellkochtopf, die Trockenhaube für Mutti, ein schmiedeeiserner Weinständer und sogar ein Klavier. Aber Klavierspielen lernen bedeutet: schon wieder ein Zwang für das Kind, und schon wird die nächste Kriegserklärung formuliert.

Mit den anderen Kindern im Hof gründet Margit den "Verein gegen die Mütter". Einmal die Woche finden Vereinssitzungen statt, wo jedes Mitglied "mindestens zwei Schandtaten der Mütter" aufzählen muss. Von wegen, Mütter meinen es doch nur gut, wenn sie ihre Kinder ganz "hinterhältig" zur Räson bringen!

Dann sind da noch die ganz speziellen Ängste, mit denen Margit zu kämpfen hat: vor dem Fegefeuer etwa und vor Darmverschluss, wenn sie den Stuhlgang zurückhält (was sie nämlich gerne tut), und dass die Schamlippen ausleiern könnten, wenn sie zu viel daran zupft.

Peinlichkeiten und Tabubrüche

Das mit der lustvollen Stuhlverhaltung geht dann im Alter sowieso nicht mehr, da ist dann schon eher Eile geboten. Mitunter können Verdauungsprobleme auch dazu führen, dass die Autorin einmal bei einer Lesung sicherheitshalber eine Windel trägt und sich nachher fragt, ob man das vielleicht durch die engen Jeans gesehen haben könnte.

Schreiners Buch, das auch ihr gegenwärtiges Leben als Autorin reflektiert, mangelt es nicht an Intimitäten, es ist ein Erlebnis- und Auskunftsbuch, schonungslos authentisch. Aber das beweist ja auch ihr bisheriges Werk, das wenig Scheu vor Peinlichkeiten und Tabubrüchen kennt. "Über das Private" heißt dieses jüngste Buch auch ganz bewusst im Untertitel (es sind übrigens vier "Privatbände" geplant).

War das wirklich so?

Das hat notgedrungen mit dem Alter zu tun, mit dem die Gelassenheit kommt. Zum anderen, sagt Margit Schreiner, "ist auch das autobiografische Schreiben eine Fiktion. Nicht alles stimmt 1:1. Realität, und sei es die vor einer Sekunde, wird nur in der Erinnerung, also der Verarbeitung im Kopf, Wirklichkeit. Erinnerungen sind nicht statisch, je weiter sie zurückliegen, desto häufiger verändern sie sich im Laufe des Lebens, verlieren oder gewinnen Bedeutung. So gesehen ist jede Erinnerung eine Erfindung."

Als Leser möchte man aber oft gerne wissen: War das wirklich so? Zum Beispiel der pädophile Zahnarzt, der seine Hand unter Margits Unterhose wandern lässt und ihr dann ins Zahnfleisch bohrt, als sie die Hand wegschiebt. War er wirklich klein und dick, wie es im Buch heißt, und hat im Kirchenchor mitgesungen – oder hilft da die Autorin ein wenig nach?

Nein, sagt Margit Schreiner, den gab es tatsächlich, und zwar genau so. Freilich, soweit Erinnerungen so verlässlich und zuverlässig sein können wie eine Zeugenaussage ...

Aber wie ist das mit dem Erinnern wirklich und dem Ernst des Lebens, der einem bis ins Alter nachhängt? Im Buch bekundet Schreiners Ich: "Die alte Angst habe ich immer noch. Ich wache morgens auf und sie ist plötzlich da. Wie in meiner Kindheit. Vielleicht habe ich ja damals Angst gehabt, weil ich noch so jung war, und habe jetzt Angst, weil ich schon so alt bin."

Hat es also nicht nur das siebte Lebensjahr, sondern auch das siebte Jahrzehnt in sich? Zwischen sechzig und siebzig, heißt es im Buch, sterben die Menschen "reihenweise an Herzinfarkt, Gehirnschlag oder an Krebs", und vielleicht "liegt das daran, dass die Menschen, die in ihrem siebten Lebensjahr so mühsam den Ernst des Lebens lernen mussten, in ihrem siebten Lebensjahrzehnt in Pension gehen und auf einmal genauso mühsam lernen müssen, nicht mehr dem Ernst des Lebens verpflichtet zu sein".

Das Leben lesen

Die Schule kann man hinter sich bringen, aber wer einmal über sechzig ist, schreibt Schreiner, hat "keine Zukunft" mehr. Da nützt es auch nichts, dass man als Schriftsteller nie in Pension geht. Überhaupt verkürze jedes Buch, das sie schreibe, ihre Lebenserwartung, schließlich sei das Schreiben anstrengend genug. Wenigstens habe das Alter den Vorteil, keinen "Kriegszustand" mehr zu kennen.

Dennoch bleiben all die bekannten unangenehmen Nebenwirkungen: Rückenschmerzen, Arthritis, Müdigkeit, Herzrhythmusstörungen, Altersängstlichkeit, Krebs ... Vor allem passiere im Alter "immer weniger Unvorhergesehenes. Man kennt sich und die Welt mit der Zeit zu gut. Und wenn endlich doch etwas Unvorhergesehenes passiert, ist es meistens nichts Gutes."

Im Gespräch kann Margit Schreiner dann auch philosophisch werden: "Der ‚Ernst des Lebens‘", sagt sie, "ist der Tod, auf den wir unaufhörlich hinleben. Alles andere geschieht zwischen Komik und Tragik, je nach Blickrichtung. Sehr ernst ist es immer."

Man wird ihn also nicht los, den Ernst des Lebens, aber man entwickelt Strategien. Zum Glück, schreibt die Autorin, hat es damals noch keine Barbiepuppen gegeben, denn könnte jemand, der in seiner Kindheit mit Barbiepuppen gespielt hat, später Schriftstellerin werden? Eher doch Modedesignerin, Hausfrau, Köchin ...

Am Ende der Volksschulzeit schreibt Margit die ersten Gedichte, vielleicht aus Langeweile, weil sie mit Scharlach im Bett liegen muss. Die Gedichte wurden übrigens am Abend vorgelesen. Die Eltern haben sich gefreut, heißt es, oder taten jedenfalls so. "Es war eine schöne Zeit." (Gerhard Zeillinger, ALBUM, 13.2.2021)