"Haste vielleicht 'ne kleine Spende?" Die junge Frau hält ihren Pappbecher vor die Brust und versucht den Vorbeieilenden direkt in die Augen zu sehen. Doch kaum jemand nimmt Notiz von ihr, man ist das Betteln am Berliner Bahnhof Zoo gewohnt.

Die Armen, die Heruntergekommenen, jene am Rande der Gesellschaft halten sich immer noch in und um Berlins berühmten Bahnhof auf. Und dennoch: Das Bild ist heute ein ganz anderes. "Die Zeiten von Christiane F. sind vorbei", sagt Wilhelm Nadolny, Leiter der Bahnhofsmission vor Ort.

Obdachlose am Bahnhof Zoo heute.
Foto: imago images/Stefan Zeitz

Bis zu 600 Menschen bekommen in seiner Einrichtung täglich etwas zu essen, können dort auch duschen. Viele stammen aus Osteuropa, die meisten sind obdachlos. "Klar, Drogen spielen immer wieder mal eine Rolle", sagt Nadolny, "aber die Drogenszene von damals gibt es nicht mehr."

Damals, das war im Jahr 1978, als die Journalisten Kai Hermann und Horst Rieck jenes Buch herausbrachten, das jahrelang die Bestsellerlisten anführte, drei Millionen Mal verkauft und 1981 auch verfilmt wurde: Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo.

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Erstmals bekam die schockierte Öffentlichkeit Einblicke in das Leben einer 14-Jährigen, die mit ihrer Clique gegen den ewigen Kreislauf aus Drogen, Prostitution, Entzug und Rückfall kämpfte. Detailliert wurden Szenen geschildert, die Eltern den Angstschweiß auf die Stirn trieben, wenn ihre Kinder erwähnten, dass sie auch einmal nach Berlin wollen.

Angekommen wären sie vermutlich am – wie es korrekt heißt – "Bahnhof Berlin Zoologischer Garten". Er war in den Achtzigerjahren der Fernbahnhof von Westberlin, heute ist er bloß noch ein Regionalbahnhof. Der nach der Wende erbaute Hauptbahnhof an der Spree hat ihm 2006 den Rang abgelaufen.

"Damals hat sich die gesamte Drogenszene hier konzentriert", erinnert sich Heike Krause vom Berliner Drogennotdienst. Ganz offen wurde am Bahnhof gedealt und gespritzt. Und wenn ein sehr junger Mann mit einem älteren in der dreckigen Toilette verschwand, ahnte jeder, der es mitbekam, was da passiert.

Auch in der neuen Serie, die der Streamingdienst Amazon Prime ab Freitag zeigt, werden diese Szenen nicht ausgespart. Christiane F. und die Kinder sind wieder da, mit ihrem Sound und der Mode der Achtzigerjahre.

Eine "moderne Version"

Doch die "moderne Interpretation", wie Produzent Oliver Berben das Werk bezeichnet, fokussiert sich nicht auf Christiane F. Natürlich spielt auch sie mit, dargestellt von der 22-jährigen österreichisch-australischen Schauspielerin Jana McKinnon.

Jana McKinnon spielt in der Serie "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" Christiane F.
Foto: Amazon Prime

Diese ist und wirkt auch deutlich älter als Natja Brunckhorst, die damals im Film von Uli Edel als 13-Jährige die Christiane F. spielte. Anders als der Film damals nimmt sich die Serie die Zeit, Hintergründe besser auszuleuchten.

Christiane F. stammte aus einer zerrütteten Familie, die Eltern wollten in Westberlin eine Heiratsagentur aufmachen, doch sie scheiterten. Immer wieder hatte der Vater hochfliegende Pläne, kam aber nicht weit. So landete die Familie schließlich in der berühmt-berüchtigten Gropiusstadt, einer Trabantensiedlung von Neukölln.

In der Serie bekommt das Versagen deutlich mehr Raum, Sebastian Urzendowsky (Der Turm) schwankt als Christianes Vater Robert zwischen Porsche, Prügeln und Proletariat, Mutter Karin (Angelina Häntsch) versucht die Sippe zusammenzuhalten.

Flucht in die Großdiskothek

Es lockt heute, wie damals, zunächst die Flucht ins Sound, jene Berliner Großdiskothek, die als modernste Europas galt. Dort hängt Christiane mit ihrer Clique ab, erst nimmt man Pillen und raucht Haschisch, dann werden die Drogen immer härter. Und schließlich ist nichts mehr mit Party und ab und zu mal einem Schuss. Sie alle stecken in der Sucht und kommen nicht mehr raus.

"Nur noch einen letzten Druck, dann hören wir auf", sagt Christiane einmal. Es sind die gleichen Worte wie damals, der gleiche Irrglaube, dass man alles unter Kontrolle habe.

Also landen auch die Serien-Christiane und ihr Freund Benno (Michelangelo Fortuzzi) auf dem Strich. Wenn Christiane ihren Körper auf der Kurfürstenstraße verkauft, dann tut der Anblick fast weh. Sie und die anderen dort sehen, obwohl auf Turkey, aus wie international gebuchte Topmodels auf dem Laufsteg.

Manierlich und mainstreamtauglich

Ähnlich ist es beim Entzug, den sie und Benno zu Hause versuchen. Damals im Film kotzte sich Christiane die Seele ungeschönt aus dem kranken Leib. 40 Jahre später bleibt es selbst hier manierlich und mainstreamtauglich.

"Wir wollten eine Distanz aufbauen und in einen zeitlosen Raum eintauchen", sagt Regisseur Philipp Kadelbach und meint: "Es ist wahnsinnig schwierig, das Gefühl dieser Kids in Szene zu setzen." Deshalb sehe Berlin in der Serie auch nicht nur trist aus, der Bahnhof und das Sound seien visuell überhöht, "um das innere Gefühl der Kids nach außen zu tragen".

Christiane (F.) Felscherinow bei der Frankfurter Buchmesse 2013.
Foto: imago/STAR-MEDIA

Man würde natürlich gerne wissen, ob die echte Christiane F. die Serie anschaut und was sie darüber denkt. Ihr Nachname wurde damals, da sie minderjährig war, zu ihrem Schutz abgekürzt. Später aber hat sie ihn selbst bekanntgegeben. Christiane Felscherinow heißt sie, sie wird im Mai 59 Jahre alt. Das Buch, übersetzt in 15 Sprachen, und der Film haben sie weltberühmt gemacht. Christiane ging nach New York, in die Schweiz, nach Griechenland, versuchte sich als Musikerin, bekam einen Sohn.

Und immer wieder wurde sie rückfällig, nie kam sie von den Drogen ganz weg. "Du kommst nicht raus aus der Szene", hat sie 2013 in einem Interview mit dem STANDARD erklärt. Da erschien ihre gemeinsam mit der Journalistin Sonja Vukovic verfasste Autobiografie Christiane F. Mein zweites Leben.

Das Gespräch damals bereitete ihr zeitweise Schwierigkeiten, sie war seit Jahren im Methadonprogramm. "Das Problem ist oft nicht nur das Heroin allein", sagte sie, "sondern das soziale Umfeld." Und sie erklärte, dass sie ein Problem habe: "nicht allein sein zu können".

Keine öffentlichen Auftritte

Doch Christiane F. hat sich zurückgezogen, sie ist nicht mehr für Journalisten zu sprechen. Es geht ihr nicht gut, hört man aus ihrem Umfeld. "Ihr" Berlin gibt es so heute nicht mehr. Die Drogenszene hat sich geändert, konzentriert sich nicht mehr auf den Bahnhof Zoo. Man dealt im Görlitzer Park, der Hasenheide oder an den U-Bahn-Linien 6 und 8.

Die Geschichte von Christiane F. bewirkte ein Umdenken in der Suchtprävention. Man versucht Abhängigen zu helfen, sie werden nicht mehr so stigmatisiert wie früher. "Es gibt in Berlin heute nicht nur Schwerstabhängige, wir sind auch sehr stark mit den sogenannten Partydrogen wie Ecstasy konfrontiert", sagt Krause vom Drogennotdienst.

Natja Brunckhorst spielte die Christiane F. im Film 1981.
Foto: imago images/Everett Collection

Die Hilfsangebote des rot-rot-grünen Berliner Senats sieht auch der CDU-Gesundheitssprecher Tim-Christopher Zeelen positiv. Aber er fordert eine härtere Gangart gegenüber Dealern und Kriminellen im Milieu: "Berlin hat international bei jungen Leuten einen guten Ruf. Der sollte nicht mit Drogen in Verbindung gebracht werden." (Birgit Baumann, 13.2.2021)

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