Nur ein Bruchteil der Menschen nimmt an Massenprotestmärschen gegen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie teil.

Illustration: Armin Karner nach Fotovorlagen von Robert Newald (2), Imago (1)

Neulich im 13A, einem Linienbus quer durch den siebten und achten Bezirk, also eines der politisch grünsten Pflaster Österreichs: Ein älterer Herr belehrt eine junge Frau unüberhörbar darüber, dass das Coronavirus angeblich ungefährlich sei. "Das mit der Übersterblichkeit", sagt er, "das stimmt nicht." Er kenne einen Pathologen, und selbst der habe bestätigt, dass die von der Regierung veröffentlichten Zahlen gefälscht seien.

Ein Fahrgast geht rhetorisch dazwischen: "Entschuldigung, aber was Sie da sagen, ist Unsinn. Diese Zahlen können Sie zum Beispiel auch bei der Statistik Austria nachlesen." Das Argument beeindruckt weder den älteren Herren noch viele andere, die in die Debatte einsteigen. Die Regierung lüge, es gehe ihr um Kontrolle, lautet der Tenor – der halbe Bus streitet.

Wie aufgeheizt ist die Stimmung nach einem knappen Jahr Pandemie im Land? Fest steht, dass jedes Wochenende in dutzenden Städten Coronamaßnahmengegner aufmarschieren. Die nahezu immer von Rechtsextremen organisierten Proteste sorgen wegen ihrer Regelmäßigkeit und ihres zwischenzeitlich anschwellenden Wachstums nicht nur medial für Aufmerksamkeit, sondern auch für Alarmbereitschaft bei Sicherheitsbehörden und Verfassungsschützern. Auch für dieses Wochenende wurden wieder Demos angemeldet und untersagt – doch zuletzt zogen trotz Verbots rund zehntausend durch Wien.

Kein wirksames Krisenmanagement

Wie anfällig ist die Mitte der Gesellschaft bereits für Verschwörungstheorien und aufständische Aktionen? Der Politikwissenschafter Peter Filzmaier verweist dazu auf eindeutige Zahlen des Corona-Panels der Universität Wien. Seit dem ersten harten Lockdown im Frühjahr wird dort regelmäßig die Befindlichkeit der Bevölkerung abgefragt.

Demnach waren im April – auf dem Höhepunkt der Angst angesichts der anrollenden Pandemie in Österreich – rund drei Viertel der etwa 1500 Befragten der Meinung, die Maßnahmen der türkis-grünen Regierung seien "angemessen" und "effektiv". Filzmaier: "Ein derartig hohes Maß an politischer Zustimmung habe ich selbst noch nie erlebt."

Neun Monate später sind diese Traumwerte Vergangenheit: Nur mehr etwa ein Drittel meint, dass die Maßnahmen gegen das Coronavirus "angemessen" seien, und überhaupt nur mehr ein Fünftel hält sie für "effektiv" – "den jüngsten Tirol-Konflikt noch gar nicht miteingerechnet", sagt Filzmaier. Das bedeute, dass zumindest fünf bis sechs Millionen Österreicher das Krisenmanagement der Regierung nicht mehr als wirksam erachten.

Mit Fortschreiten der Pandemie steigt nicht nur die Zahl der Corona-Leugner, Impfskeptiker und Masken- sowie Abstandsgegner, sondern auch jene der Corona-Verängstigten, Corona-Verunsicherten und Corona-Frustrierten. Doch nicht alle leben ihren Ärger in Massenversammlungen auf den Straßen aus, "sondern nur ein Bruchteil", sagt Filzmaier.

Kritiker ist nicht gleich Kritiker

Maßnahmenkritiker ist also nicht gleich Maßnahmenkritiker. Es gibt jene, die einzelne oder alle Maßnahmen als zu streng erachten, sich aber grosso modo daran halten genauso wie jene, die sich "wie einst in der DDR" wähnen. Aber Regierungskritiker sind auch jene, die die gesetzten Mittel als falsch, weil zu lasch oder inkonsistent erachten.

Einer, der das Krisenmanagement der Regierung scharf kritisiert, hat sich von der Straße zurückgezogen – der Schauspieler Hubsi Kramar, der vielen vor allem in seiner Rolle als Polizeichef Ernst Rauter im Tatort bekannt ist: "Dass man Alte in Heimen nicht geschützt hat, bei der Corona-App, bei der Clusternachverfolgung – da sind einfach überall offensichtlich Fehler passiert."

Doch mit den Demos der "Querdenker"-Szene will Kramar nichts mehr zu tun haben. Am 16. Jänner war er als Redner auf der Demo in Wien angekündigt. Er kam, sah und ging wieder, wie er erzählt: "Wir müssen mit Viren leben lernen. Aber ich weiß auch selbst zu wenig darüber, das muss man aber, wenn man argumentieren will." Als er zur Demo gekommen ist, sei er dort auf ein "lautes Gegröle" getroffen.

Er habe sofort eine Aversion entwickelt: "Niemand hat zugehört, wenn man etwas argumentiert hat. Es war zutiefst faschistoid und armselig." Der Schauspieler hat sich vorerst aufs Land zurückgezogen, wo er das "Chaos von der Ferne reflektiert".

Die Menschen seien "frustriert und aggressiv", sagt der 72-jährige Kramar, und: "In der Gesellschaft treten Widersprüche zutage, die auch ohne Virus unerträglich sind. Man hat alles, was wichtig war, weggespart, wie die Bildung und das Sozialsystem."

Inkonsequente Kommunikation

Die Regierung stecke mit ihrem Krisenmanagement jedenfalls in einer Sackgasse, sagt auch Filzmaier. Die Zahl der Neuinfektionen stagniere seit Monaten auf hohem Niveau – und das trotz mehr und weniger harter Lockdowns in Serie. Der Politikexperte macht dafür auch die inkonsequente Kommunikation der Politik verantwortlich: Mal setze man "auf Angst und Strafen, dann wieder auf Milde und Eigenverantwortung".

Es gäbe Auswege für Frustrierte, damit sie sich nicht radikalisieren und ins rechtsextreme Verschwörungsmilieu kippen.
Illustration: Armin Karner nach Fotovorlagen von Robert Newald (2), Imago (1)

Diesen Befund teilt auch Soziologe Alexander Bogner von der Universität Innsbruck: "Die Leute vermissen so etwas wie eine grundsätzliche Strategie. Wenn ein Tornado droht, dann kann man nicht lange diskutieren, dann muss man umsetzen, was Experten sagen", sagt Bogner. Grundsätzlich solle die Politik aber mehr Raum für Diskurs schaffen. Denn Fakten alleine könnten keine politische Debatte ersetzen.

Demo-Motivationen

In diese Kerbe schlagen derzeit erfolgreich die umstrittenen Organisatoren der Demonstrationen. Für Deutschland liegen auch erste Forschungsergebnisse zu den Beweggründen der Teilnehmer vor. Der deutsche Soziologe Oliver Nachtwey befragte 1150 von ihnen. Was die Demonstranten eint, sei "eine tiefe Entfremdung von den Institutionen der Demokratie, den Parteien und den etablierten Medien", sagt er. 75 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass die Regierung der Bevölkerung die Wahrheit verschweigt, 79 Prozent, dass sie das Volk hintergeht.

Dies konnte man auch bei Demonstrationen in Wien beobachten, wo die "Gesundheitsdiktatur" verteufelt, Masken als "Maulkorb" angeprangert und Medien als "Lügenpresse" ausgerufen wurden. Manche vergleichen sich gar mit Holocaust-Opfern. "Die Teilnehmer nehmen sich als eine diskriminierte Minderheit wahr", sagt Nachtwey. Im Vergleich zur deutschen Gesamtbevölkerung sind zudem überproportional viele beruflich Selbstständige. 34 Prozent geben an, die Krise bedrohe ihre wirtschaftliche Existenz.

"Was sich in der Studie zeigt und ich für sehr gefährlich halte ist, dass es keine gemeinsame Realitätswahrnehmung mehr gibt in der Gesellschaft", sagt Nachtwey. So würden viele der Menschen nur noch bestimmten Experten glauben, "nämlich jene die sie als ebenso vom "System" ausgestoßen wahrnehmen", sagt Nachtwey. Auffallend sei auch der hohe Anteil an esoterischem Denken. So finden 67 Prozent, dass der Gesellschaft mehr spirituelles und ganzheitliches Denken gut tun würde und 64 Prozent, dass die Selbstheilungskräfte des Körpers ausreichen würden, um Corona zu bekämpfen. Covid-19 halten 78 Prozent für nicht gefährlicher als eine schwere Grippe.

Im bisherigen Wahlverhalten zeigen sich große Unterschiede unter der Demonstranten, es zeigt sich aber auch, wer von den Protesten profitieren könnte: In Deutschland gaben 23 Prozent an, beim letzten Urnengang die Grünen gewählt zu haben, 18 Prozent die Linke, 15 Prozent die AfD. Auf die Frage nach der Wahl zum Zeitpunkt der Umfrage lagen die Grünen nur noch bei einem Prozent, die AfD hat dafür auf 27 Prozent zugelegt und die neu gegründete Kleinpartei "Die Basis" kommt unter den Befragten aus dem Stand auf 18 Prozent.

Von den 51 Österreichern, die die Frage beantwortet haben, gaben 31 Prozent an, 2019 die FPÖ gewählt zu haben, zum Zeitpunkt der Umfrage hätten 51 Prozent ihr Kreuz bei den Blauen gemacht. Dieses Potenzial haben die Freiheitlichen längst erkannt: Nach der ersten Großdemonstration Mitte Jänner riefen sie zwei Wochen später zu einer eigenen Kundgebung auf, die von der Polizei untersagt wurde, aber dann dennoch regen Zulauf bekam.

Stärkung der politischen Debatte

Politologe Filzmaier gibt zu bedenken, dass mehr als ein Drittel der Wahlberechtigten ihre Ansichten derzeit bei keiner Partei inhaltlich bestätigt sehen würden – und das öffne "Tür und Tor für weitere Radikalisierungen". Wäre am Sonntag Nationalratswahl, hätte eine Partei mit einer breitenwirksamen Führungsfigur, die sich allein gegen den aktuellen Maßnahmenmix von Türkis-Grün stellt, "die besten Chancen, aus dem Stand ins Parlament einzuziehen".

Zumindest in Deutschland, das in Sachen Protestbewegungen immer einen Schritt vor Österreich war, habe sich die Frage der Parteigründungen "schon wieder zerlegt", sagt Politikwissenschafter Jan Rathke, weil man sich in der Szene zerstritten habe.

In Österreich hat sich mittlerweile der ehemalige Kärntner Landtagsabgeordnete und Demo-Organisator Martin Rutter, der nun wegen Verhetzung angeklagt wurde, mit der ebenfalls federführend aktiven Jennifer Klauninger zerkracht. Rathke gibt aber zu bedenken, dass nach dem Ende der Pandemie "viele dieser Leute im Sammelbecken der Reichsbürger oder Staatsverweigerer" aufgefangen werden könnten.

Wie könnte man nun gegensteuern, damit Corona-Frustrierte nicht in dieses Milieu kippen? Das Zurückziehen der Politik auf das Feld der Wissenschaft überfordere viele Menschen, meint Soziologe Bogner. Er plädiert daher für die Stärkung der politischen Debatte: "Verschwörungstheoretiker rationalisieren mit abstrusen Theorien das, was im öffentlichen Diskurs wenig Platz findet." Also Emotionen, Ängste, Zukunftsvorstellungen.

Belohnung ohne Schlange

Dass es nicht die alleingültige Antwort auf die Frage gibt, wie wir aus der Pandemie wieder herauskommen, erleichtert nicht gerade den Diskurs darüber. Offene Fragen und Widersprüche auszuhalten falle Anhängern von Verschwörungstheorien schwer, sagt Rathke. Doch diverse Meinungen darüber, welche die besten Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie seien, machten Demokratien und unabhängige Wissenschaften aus, sagt Rathke.

Er fordert staatliche Stellen, die Hilfe bieten, wenn jemand in die Verschwörerwelt abzugleiten droht. Dass unter Maßnahmenkritikern und Corona-Leugnern viele seien, die über 50 sind und die früher "nie aktivistisch oder politisch" waren, erklärt er so: "Sie gehen auf das Arbeitsende in ihrem Leben zu, viele sind Kleinunternehmer und fürchten die Zerstörung ihrer Lebensleistung."

Filzmaier wiederum plädiert dafür, dass die Regierung versucht, die Bevölkerung mit positiver Motivation zum Durchhalten zu animieren – und dass sie am besten online auf Belohnungseffekte setzt, damit die Leute "ja nicht wieder irgendwo Schlange stehen dafür": Das könnten Steuererleichterungen sein für alle, die sich impfen lassen, genauso wie Gutscheine für den Online-Handel, wer sich den Corona-Tests unterziehe. (Vanessa Gaigg, Johannes Pucher, Colette M. Schmidt, Nina Weißensteiner, 13.2.2021)