Dorothee von Laer forderte aufgrund der vermehrt nachgewiesenen Mutante B.1.351 (vulgo Südafrika-Mutante) eine Quarantäne für das ganze Bundesland.

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Der Gegensatz ist augenscheinlich. Im Ringen gegen eine weitere Ausbreitung des Coronavirus mahnen Expertinnen und Experten dazu, Lockdown-Lockerungen zu überdenken. Die Politik jedoch folgt ihren eigenen, machtbestimmten und zeitaufwendigeren Abläufen. Sie kommt auch Öffnungswünschen aus der Wirtschaft entgegen.

Der Zwiespalt zeigte sich zuletzt im Fall Tirol besonders stark, als Dorothee von Laer aufgrund der vermehrt nachgewiesenen Mutante B.1.351 (vulgo Südafrika-Mutante) eine Quarantäne für das ganze Bundesland forderte, Land und Wirtschaftskammer Tirol sich polemisch dagegen äußerten und es mehrere Tage brauchte, bis sich die türkis-grüne Bundesregierung zum späten Kompromiss der Grenzkontrollen durchringen konnte.

Was verrät dieser Ablauf der Entscheidungen über die Rolle der Wissenschaft in der Pandemie-Bekämpfung? Wie schätzen Forscher und Forscherinnen ihre Position ein? Werden sie gehört, oder landen ihre Studien in der Schublade?

Selektives Hörvermögen der Politik

Kritik kommt von der Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny. Sie sagt: "Wissenschafter als Corona-Experten werden von der Politik zwar gehört, aber selektiv und ad hoc." In Österreich fehle die Institutionalisierung eines nachhaltigen und "wissenschaftlich robusten" Beratungssystems. Es müsse politisch unabhängig sein und Zugang zu soliden Daten haben.

Über mangelnde und mangelhafte Daten hat Stefan Thurner, Chef des Complexity Science Hub (CSH) in Wien, in den vergangenen zwölf Monaten oft gesprochen. Der Komplexitätsforscher ist Teil des Prognose-Konsortiums im Gesundheitsministerium und sagt, dass die wissenschaftlichen Studien seines Bereichs zum Teil auch in die Entscheidungsfindung der Politik einflössen.

Zu einem geringen Teil würden Erkenntnisse aber auch aus dem Zusammenhang gerissen und nach Belieben verwendet, was manchmal sogar der Grundaussage der Studien entgegenlaufe. "Das ist zwar sehr ärgerlich, kommt aber selten vor."

Mobilitätsdaten

Thurner weist darauf hin, dass die Lockdown-Maßnahmen von einem Großteil der Bevölkerung nicht ausreichend mitgetragen würden. Das zeige sich allein an den Mobilitätsdaten, wonach Österreicher und Österreicherinnen inzwischen nur mehr um 15 Prozent weniger bewegen als im Vergleichszeitraum 2020. Das sei vermutlich zuwenig, um die Infektionszahlen nachhaltig nach unten zu drücken.

Er habe Verständnis für vorsichtige Lockerungen, fürchte aber, "dass wir aufgrund der höheren Ansteckungsraten durch die Mutanten bald wieder strengere Maßnahmen brauchen".

Man müsse sich jetzt sehr darauf konzentrieren, Fallzahlen zu erreichen, die ähnlich wie im April 2020 sind. Das sei notwendig, um danach begünstigt durch die wärmere Jahreszeit gut durch den Sommer zu kommen. Thurner betont, "dass unter den Wissenschaftern niemand finanzielle Interessen hat, wenn es um Ratschläge zu Lockdown-Maßnahmen geht".

Radikalisierung

Die Beratungstätigkeit laufe nebenbei und ohne Entgelt. Aus der Bevölkerung käme nicht selten Unverständnis, teilweise in Form von Hate-Mails, die wüste Beschimpfungen und Bedrohungen enthielten. Thurner: "Es kommt nach einem Jahr Corona langsam zu einer Radikalisierung."

Andreas Bergthaler, Virologe am Centrum für Molekulare Medizin (CeMM) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, sieht das ganz ähnlich: "Ich versuche dazu beizutragen, die dynamische Situation mit neu zirkulierenden Varianten und Virusmutationen besser einzuordnen. Ratschläge für politische Maßnahmen vermeide ich."

Auch er habe schon heftige Reaktionen von Menschen erhalten, die sich durch den Lockdown in einer ökonomisch und psychisch schlechten Lage befänden. Aber auch er sehe die Anspannung in der Bevölkerung und hoffe, dass man durch gezielte Maßnahmen wie Schulöffnungen eine höhere Compliance in der Gesellschaft erreichen könne.

Unterstützung für Eltern

Die Politikwissenschafterin Barbara Prainsack bemängelt das fehlende Interesse der Politik an Erkenntnissen aus der Armutsforschung. "Wir bräuchten dringend Unterstützung für Eltern, die das Homeschooling nicht bewältigen. Und finanzielle Hilfen für Menschen, die sich etwa das Daheimbleiben im Quarantänefall nicht leisten können. Alle, die von zu Hause arbeiten können und wollen, sollten das dürfen", sagt Prainsack. Doch ernsthaft diskutiert werde derlei in Österreich nicht.

Vielmehr würden die sozialen Verwerfungen "lediglich übertüncht", etwa durch den breiten Appell an Selbstverantwortung. Laut neuen Umfrageergebnissen des Corona Panel Projekts an der Uni Wien sagten bereits im Dezember 20 Prozent der Befragten, sie könnten sich eine Quarantäne nicht mehr erlauben, "sei es aus psychischen oder existenziellen Gründen – aus Furcht zu verarmen". 61 Prozent fürchteten sich vor Coronavirus-Ansteckung in öffentlichen Verkehrsmitteln, die zu benutzen viele aus Jobgründen gezwungen sind.

Das Problem dabei, sagt Prainsack: Um die Seuche in Schach zu halten, müssten die Hygienemaßnahmen weiter befolgt werden. Hier entstehe eine immer größere Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität.

Steuerungsfiktion

Kritik an der Politik kommt auch vom Gesundheitsökonomen Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS). Er selbst hat sich einer Initiative angeschlossen, die eine deutlich stärkere Reduktion der Fallzahlen gewünscht hatte, als das in Österreich der Fall ist.

Aber war es deshalb ein Fehler, in Österreich den Lockdown zu lockern? Czypionka verneint das. Denn auch er meint, dass zuletzt ein zu großer Teil der Bevölkerung die Maßnahmen nicht mitgetragen habe. Er sagt, die österreichische Regierung sitze von Anfang an einer Steuerungsfiktion auf: Der Glaube, dass man mit Gesetzen und Verordnungen allein Menschen zu einem bestimmten Handeln bewegen könne, sei falsch.

Im Privaten, wo Freiheiten ohnehin groß und Kontrollen schwierig seien, sei es ohnehin unrealistisch zu glauben, man könne Menschen durch Vorschriften beeinflussen. Während die Regierung ständig neue Regeln und Verordnungen gegen die Pandemie erlassen habe, habe sie es verabsäumt, "die Menschen mitzunehmen" – vor allem durch Transparenz und öffentliche Debatten.

Czypionka sagt, dass Maßnahmen in Österreich von Anbeginn an "geheimniskrämerisch" erlassen worden seien. Um hier umzuschwenken, sei es auch jetzt noch nicht zu spät, sagt der Experte. Und: Er fordert klare Zielwerte, bei deren Erreichung es mehr Öffnungen gibt. So könnten Bürger animiert werden, selbst mitzutun.

Bleibt die Frage, ob die Politik künftig vermehrt auf die Wissenschaft hört, ihr hier eine aufklärerische Rolle auch zubilligt – und bei unliebsamen Ratschlägen wie jenem, Tirol unter Quarantäne zu stellen, nicht mit Polemik antwortet. Mehr Transparenz scheint bisher anscheinend nicht auf dem Programm zu stehen. (Peter Illetschko, Irene Brickner, András Szigetvari, 13.2.2021)