Endlich von der Mittelloge aus den Vorbereitungen zur Staatsopernpremiere bewohnen: Der gelockerte Lockdown macht’s möglich.

Foto: Heribert Corn

Gustav Mahler, Richard Strauss und Herbert von Karajan sind irritiert. Keine erregten Gespräche im Schwind-Foyer, kein Gläserklirren und schon gar kein Opernball-Tsunami. Vereinzelt tapsen Besucher herum, die Blicke meist auf die blattgoldschwangere Decke des schmucken Pausenraums gerichtet. Die dunklen Büsten der verblichenen dirigierenden Direktoren werden meist übersehen.

In den letzten Jahren, sinnieren die honorigen Herren belustigt, ist das geschichtsträchtige Haus am Ring gern als Opernmuseum bezeichnet worden. Eine Uraufführung ereignete sich hier in etwa so oft wie die Geburt eines Pandababys im Schönbrunner Zoo (wurde aber mit deutlich weniger öffentlicher Begeisterung aufgenommen). Und nun ist aus der Staatsoper tatsächlich ein veritables Museum geworden. Tempora mutantur!

Ja: Die Wiener Staatsoper hat dem pandemisch bedingten Veranstaltungsverbot ein Schnippchen geschlagen und öffnet das Haus von Freitag bis Sonntag (jeweils von elf bis 16 Uhr bei freiem Eintritt) für eine "Kunst- und Architekturausstellung in Form eines Rundgangs". Das Musiktheater-Mekka präsentiert sich als kunsthistorisches Museum.

Hinzugefügte Substanz

Was sehen die flanierenden Besucherinnen und Besucher denn so? Aufgrund seiner wechselvollen Geschichte, die ein zerstörerisches Bombardement am Ende des Zweiten Weltkriegs miteinschließt, erinnert der Gebäudekörper der Wiener Staatsoper ja an die Erscheinungsbilder der Gesamtkunstwerke Cher, Dolly Parton und Harald Glööckler: Wenige Teile der Originalausstattung ergänzen sich mit nachträglich hinzugefügter Bausubstanz.

Und so kann mit dem Vestibül, der prachtvollen Feststiege, dem Schwind-Foyer samt Loggia und dem Teesalon die prachtvolle Opulenz des Historismus, Unterabteilung Neorenaissance, goutiert werden. Erich Boltensterns Slim-Fit-Eleganz der 50er-Jahre bildet dazu im Marmorsaal und im Gustav-Mahler-Saal einen reizvollen Kontrast. Abschließend kann das nigelnagelneue Opernfoyer begutachtet werden, das tagsüber als Ticketcenter, Shop und Café fungiert und sich abends als Bar zu einem "Treffpunkt der lokalen Kultur- und Musikszene" wandeln soll. Wie die großen Leuchtbotschaften in der ringseitigen Loggia soll auch das Opernfoyer neue Kundschaft ansprechen.

Gelegenheit für Selfies

Wenn man Glück hat (und Freitag ist), können von der Mittelloge aus Probenvorbereitungen mitverfolgt werden. Und falls der Eiserne Vorhang unten ist, kann man immerhin ein paar spektakuläre Selfies schießen. Leider nicht im Rundgang enthalten: die Künstlergarderobe, in der Angela Gheorghiu 2016 schmollte, als Jonas Kaufmann meinte, unbedingt sein "E lucevan le stelle" wiederholen zu müssen – und daraufhin erst verspätet auf die Bühne zurückfand. Oder das Direktionsbüro von Bogdan Roščić, in dem sich dieser die Haare raufte, als die 19. Verordnung des Gesundheitsministeriums den 20. Spielplanentwurf obsolet machte. Auch die Kantine, in der die nervöse Rollendebütantin, der robuste Bühnenarbeiter und die graue Verwaltungskraft zu einem geselligen Miteinander finden, darf wohl als Kunstwerk betrachtet werden und sollte in den Rundgang miteinbezogen werden.

Die ersten Besucherinnen und Besucher zeigten sich am Freitag jedoch rundum beglückt von ihrer Wiederannäherung an das seit Monaten geschlossene Haus, einige plagten schon "Entzugserscheinungen". Wenn schon kein Opernbesuch mit Musik möglich ist, dann zumindest einer ohne. Abonnentinnen und Operninteressierte, zufällige hereingeschneite Familien und fernöstliche Musikstudentinnen schauten sich begeistert um.

Vielleicht, so denkt man sich nach dieser ungewöhnlichen Transformation des Operntempels, könnte die Vorgehensweise der Wiener Staatsoper als Inspirationsquelle für andere kreative Raumnutzungen dienen. Was wäre, wenn sich Institutionen wie Figlmüller, Plachutta & Co zu Museen für Gastronomiegeschichte erklärten? Oder wenn das Stadthallenbad zum Wassersportmuseum erklärt würde und Führungen im 50-Meter-Becken anböte – statt auf Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch dann eben in Brust, Kraul oder Delfin? Das Kaufhaus Österreich schien schon fast Geschichte, dem Museum Österreich gehört die Zukunft! Denn da ist ab sofort wieder alles möglich. (Stefan Ender, 15.2.2021)