8,90 Euro brutto sieht der Kollektivvertrag für Fahrradboten pro Stunde vor. Zuschläge für Sonntagsarbeit gibt es nicht. Bei Mjam, einem der Platzhirsche des Marktes, stellen freie Dienstnehmer das Gros der Fahrer.

Foto: Regine Hendrich

Wien – Adele Siegl tritt bei jedem Wetter in die Pedale. Auch bei Minusgraden und eisigem Gegenwind. Seit sechs Jahren kurvt sie als Fahrradbotin durch Wien und will bis heute auf keinen anderen Job umsatteln. Sie wuchs auf dem Land auf und bezeichnet sich als Frischluftfanatikerin. "Ich habe lange genug studiert, um zu wissen, dass ich in keinem Büro sitzen will." Auf bis zu 250 Kilometer die Woche kommt sie mit ihrem Rad im Dienst des Essenszustellers Mjam. "Doch mit Spaß allein lässt sich keine Miete bezahlen."

Siegl zählt zu den leidenschaftlichen Freaks der Straße. Hunderte Kollegen, die die wachsende Arbeitslosigkeit und fehlende Jobalternativen in den Markt treiben, sind es nicht. Mehr als 90 Prozent unter ihnen fahren als freie Dienstnehmer ohne bezahlten Urlaub, Krankenstand und 14 Gehälter. Acht Euro die Stunde garantiert ihnen Mjam. Schaffen sie in dieser Zeit mehr als zwei Aufträge, gibt es vier Euro zusätzlich. Für Angestellte sieht der Kollektivvertrag 8,90 Euro brutto die Stunde vor. Zuschläge für Sonntagsarbeit gibt es keine.

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27 Milliarden Euro

Seit Corona ist die Nachfrage explodiert. Geschlossene Gastronomie und Ausgangsbeschränkungen verleihen Essenszustellern wie Delivery Hero, zu dem auch Mjam zählt, mitsamt ihrer Investoren Flügel. Das einstige Start-up-Unternehmen, zu dem auch Mjam zählt, hat seinen Umsatz im Vorjahr global auf 2,8 Milliarden Euro verdoppelt. 2019 standen noch rund 650 Millionen Euro an Verlust in seinen Büchern, was ihn aber nicht dabei bremste, rasant weitere Marktanteile zu gewinnen. An der Börse ist Delivery Hero derzeit 27 Milliarden Euro wert. Im Dezember vor einem Jahr waren es noch zehn.

Der Arbeitsdruck sei gestiegen, das Trinkgeld gesunken, sagt Siegl. Viele Arbeitslose aus der Gastronomie suchten Zuflucht in Botendiensten. Jeden Monat kämen hunderte hinzu. Die Wartezeiten vor den Restaurants seien oft lang, viele Wirte verweigerten Kurieren den Gang auf die Toilette. "Es ist entwürdigend."

"Wir nehmen alle"

Eine Niedriglohnbranche, für die es keinerlei Qualifizierung brauche, außer Radeln zu können, nannte Mjam-Chef Artur Schreiber den Markt jüngst. Kein anderes Geschäft biete derart einfachen und raschen Zuverdienst, ergänzt er nun. "Bewerben sich morgen 300 Fahrer – wir würden alle nehmen." Höhere Löhne als die Gastronomie zu zahlen, das gebe der Markt aber nicht her.

Ebenso wenig finanzierbar sei es, alle Boten anzustellen. Wobei freie Dienstnehmer nicht per se günstiger für das Unternehmen seien, wie er betont. Überdies bestehe der Großteil unter ihnen ja von sich aus auf hohe Flexibilität. "Wir suchen auch echte Dienstnehmer. Warum bewerben sich so wenige dafür?"

"Ohne soziale Absicherung"

Weil Mjam nichts dafür tue, um den Job attraktiver zu machen, sagt Siegl, die als Betriebsrätin die nur gut 50 angestellten Mitarbeiter der in Summe 2.000 Boten vertritt. "Flexibilität legitimiert es nicht, Leute ohne soziale Absicherung fahren zu lassen und ihnen alle Rechte abzusprechen." Sie werde oft gefragt, warum sie sich selbst keine besser bezahlte Arbeit suche. "Weil ich in meiner Branche was verändern möchte. Ich will nicht in einer Welt voller prekärer Jobs leben." Kuriere sind für sie die Spitze des Eisbergs, bei dem mit freien Verträgen Schindluder betrieben werde.

Mjam-Boten liefern zumeist auf eigenen Rädern. Ihr eigentliches Arbeitsgerät sei jedoch eine App. Diese kontrolliere jede Bewegung, schicke sie auf Zwangspause, wenn sie Aufträge ablehnten. "Was hat das mit freien Dienstverhältnissen zu tun?" Siegl erinnert daran, dass Rivalen wie Lieferando alle Fahrer anstellten und über Kollektivvertrag zahlten. "Warum schafft Mjam das nicht auch?" Und sie führt Sublieferanten ins Treffen, die ihre Leute in den äußeren Wiener Bezirken unter noch widrigeren Bedingungen fahren ließen. "Darüber will keiner sprechen."

"Der Lack ist ab"

Dass er Subunternehmen für sich fahren lässt, weist Schreiber zurück. Man arbeite teilweise lediglich mit Logistikpartnern zusammen. Und er betont, dass bei ihm kein Fahrer gezwungen werde, Bestellungen anzunehmen. Mjam habe freie Dienstverträge im Übrigen mehrfach juristisch prüfen lassen. "Sie sind gerechtfertigt und rechtmäßig."

"Der Lack ist ab", zieht hingegen Benjamin Herr Bilanz. Die Zeiten, in denen mit dem Job suggeriert wurde, Sport und Arbeit lässig zu verbinden, seien Geschichte. Der Arbeitssoziologe der Uni Wien fuhr einst selbst als Lieferant Essen aus und schrieb ein Buch darüber. Herr erzählt über Geschäftsmodelle, die Risiko und Kosten systematisch an die Belegschaft auslagerten. Plattformfirmen hantelten sich mit Versprechen auf Profit von Investor zu Investor. Der Druck, ihre Dienstleistungen so günstig wie möglich anzubieten, gehe zulasten der Arbeitnehmer.

"Wenn wer 30 bis 40 Stunden die Woche fährt, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ist von Flexibilität keine Rede mehr. Und wer gute Schichten will, muss sich wie ein echter Dienstnehmer verhalten", meint auch Robert Walasinski. "Bestellungen nicht anzunehmen, spielt es da nicht." Walasinski war einst bei Foodora im Betriebsrat, verhandelte den Kollektivvertrag für die Branche mit und ist Teil von Riders Collective ist, einer gewerkschaftlichen Initiative, die sich für faire Arbeitsbedingungen von Boten einsetzt.

Hohe Fluktuation

Für Mjam selbst sei es einerlei, wie viele Leute man unter Vertrag habe, glaubt Walasinski. Schließlich lasse sich alles über die Vergabe von Schichten regeln. Die hohe Fluktuation unter den Freien hält er für gewollt. Geschäftsmodelle wie dieses seien darauf ausgelegt, dass keiner lang dabei sei, auch, um sich nicht organisieren zu können. Letztlich sei alles dem Ziel eines Marktmonopols untergeordnet. Um günstiger als die Konkurrenz zu sein, werde bei den Arbeitnehmerkosten gespart.

Für Bettina Haidinger, Volkswirtin der Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt Forba, muten Argumente von Logistikern, nicht genug Bewerber für fixe Anstellungen zu finden, fast zynisch an, da der Markt vielfach von Migranten ohne Arbeitsbewilligung gespeist werde. Sie berichtet von einem Urteil des Höchstgerichts in Spanien, das einen Botendienst auf Basis einer App als echtes Arbeitsverhältnis einstufte. Letztlich gehe es aber immer um Einzelfälle, die auf dem Arbeitsgericht durchgefochten werden müssten. "Es gibt rechtlich zu viele Schlupflöcher."

Enormer Preisdruck

Für Rita Huber, die in Wien ein Lieferservice für Bio-Essen auf die Beine stellte, ist es rätselhaft, warum diese Jobs nach wie vor nicht als echte Dienstverhältnisse eingestuft werden. "Ich verstehe nicht, warum hier nicht strenger kontrolliert wird." Ihrer eigenen Fahrer, die derzeit 16 Touren täglich absolvieren, hat sie angestellt. Könne sich ein Unternehmen dies nicht leisten, müsse es sein Geschäftsmodell eben ändern.

Der enorme Preisdruck am Markt, der in der Gastronomie beginne, ist für sie jedoch unbestritten. Nur wenigen Kunden sei ein Mittagessen mehr als zehn Euro wert. Der Großteil der Gäste sei nicht bereit, für die Dienstleistung der Lieferung zu zahlen. "Es ist trotz großer Nachfrage ein knapp kalkuliertes Geschäft."

Mjam investiere in neue Geschäftsbereiche, und der Mutterkonzern Delivery Hero nehme dafür auch Verluste in Kauf, sagt Schreiber. Letztlich könne man nur so viel ausgeben wie man einnehme. Andernfalls müsse Mjam auch mehr Geld von Restaurants oder Kunden verlangen.

Öffentliche Hand als Hebel

Arbeitssoziologe Herr rät zu selbst verwalteten, nicht gewinnorientierten Kooperativen als Gegengewicht zu Konzernen, die von Risikokapital getrieben würden. "Und es braucht politischen Willen, Essenszustellung als Daseinsvorsorge zu regulieren."

Fahrradbotin Siegl fordert, dass freie Dienstnehmer in das Arbeitsverfassungsgesetz aufgenommen werden. Arbeitsmarktexpertin Haidinger sieht wichtige Hebel bei der öffentlichen Hand, die Aufträge nur an Betriebe vergeben sollte, die Mitarbeiter anstellten. "Vor allem aber müssen sich die Leute wehren, der Druck muss von unten kommen." (Verena Kainrath, 15.2.2021)