"Deine Brust – ein Schutzschild": Philipp Gehmacher in Bestform.

Foto: Gehmacher

Auf seine spezielle Art ist Philipp Gehmacher ein Aufständischer. Denn nie hat die 46-jährige Größe der zeitgenössischen Choreografie an der Umgestaltung des Kunstbetriebs zum didaktischen Wellnesspark mitgearbeitet, als der sich ein Großteil der "Kultur" so gerne anpreist. Außerdem ist es ihm gelungen, seine auch nach mehr als 20 Jahren noch einzigartige Körpersprache immer wieder weiterzuentwickeln. Das hat sich während der gegenwärtigen Krise nicht geändert, wie gerade auf der Website von Le Studio in Gehmachers frisch produziertem Video In its Entirety zu sehen ist.

Dieses Film-Diptychon beginnt mit Teil zwei, einem Solo im Dunkeln der Blackbox. Und es schließt mit seinem bereits vergangenes Jahr entstandenen ersten Teil, in dem sich vor einer White-Cube-weißen Wand der Wiener Tänzer Alex Franz Zehetbauer zu Gehmacher gesellt. Vor dem Hintergrund der zeitspezifischen Missstimmung erscheint die Umkehr der Reihenfolge sinnvoll: Der dunkle Alleintanz führt in die Abgründe unter den Oberflächen der aktuellen Appelle zum positiven Denken, bevor es zu zweit ins Helle geht.

Fragil, fast gebrochen

Ohne falsche Scham bekennt sich der Künstler dazu, dass das Verschwinden der Jugendlichkeit etwas mit ihm macht. Als er zuletzt 2015 in einem schwarzen Raum auftrat, als Gast bei Ian (damals noch: An) Kalers Stück o.T. | (gateways to movement), tat Gehmacher das noch wie ein frischer Besucher im hippen Clubkeller. Im Solopart von In its Entirety dagegen wirkt sein Körper gestaucht, fragil, beinahe gebrochen.

So jedenfalls steht er zu Beginn in der Blackbox bei einer Tür und liest mit kratziger Stimme von einer Landkarte einen sehr persönlichen Text, der zur Anspielung auf das fehlende Livepublikum in der Streamingsituation führt: "Deine Brust ein Schutzschild, dein Bildschirm dein Herz." Daraufhin zeigen die Screens in den Zuschauerzimmern ein Solo von der Art, die Philipp Gehmacher zu einem der bis heute außergewöhnlichsten Performer gemacht hat: nun in gereifter, daher sogar noch berührender Form.

Jenseits der Banalitätsbarriere

Der Tänzer zögert, bevor er in den Raum greift. Aus dessen Schwärze scheint er eine Verunsicherung zu ziehen und mit seinen Bewegungen zu beschreiben. Die von dunklem Sound getragene Verhaltenheit seiner Gesten macht die poetische Kraft dieses Körpers aus: eine Konzentration, die die Banalitätsbarriere der Mattscheibe spielend überwindet.

Danach, wieder als Lesung, ein Zeugnis der Ernüchterung – "mein Körper wollte mir nicht mehr zur Verfügung stehen ... große Fuge, große Flucht" –, auf das eine weitere Solotanzpassage folgt, als nicht minder intensive Reminiszenz an etwas Verlorenes. In einen flauschigen Anzug gehüllt, tanzt Gehmacher zwischen Nahaufnahme und Entfernung.

Im Duett lassen Gehmacher (sprechend) und Zehetbauer (singend) dann die Worte tanzen, während zwischendurch ins Video eingeblendete Fotos den Eindruck einer Ausstellung vermitteln. Gehmacher spricht von dem Wunsch "for tasting life in its entirety, the body in its entirety". Die Tragik dabei: Das allzu lange viel zu kurz erscheinende Leben ist sich selbst nie genug. (Helmut Ploebst, 15.2.2021)