Schuld sind – eh klar – "die Ausländer". Auch wenn die drei Herren vermutlich österreichische Staatsbürger sind, fließend Wienerisch sprachen, superfreundlich waren und ich ihnen lediglich ihre fröhliche Gastfreundschaft zum Vorwurf machen kann: Sie sind schuld.

Schuld daran, dass Sie hier jetzt diese Geschichte lesen – und nicht die seit Wochen geplante Erzählung über die seltsam-melancholische Freude am virtuellen Gruppen-Rennradfahren am Gummiband durch Watopia oder französische Bildschirmlandschaften. Aber vom "Zwiften" als fast akzeptablem Ersatz für echte soziale Kontakte beim Sport lässt sich jederzeit erzählen – dass eine Donauinsel-Grillerei Mitte Februar aber Dritten eventuell das Halbmarathonergebnis zusammengehaut hat, nicht. Das geht nur diese Woche.

Foto: thomas rottenberg

Deshalb entschuldige ich mich hier jetzt gleich einmal bei all jenen, denen ich beim zweiten Lauf der Eisbärlaufcupserie dieses Winters eventuell zu Unrecht einen Platz in der Rangliste weggenommen haben könnte: Ich habe meine Halbmarathonzeit von diesem Sonntag nämlich einfach geschätzt (und Daumen mal Pi hoch- respektive runtergerechnet), statt, wie ursprünglich geplant, exakt bei 21,1 Kilometern entweder eine Runde zu nehmen oder das Uhren-Display abzufotografieren.

Nur war ich eben genau zu diesem Zeitpunkt schwer beschäftigt: Ich musste mich gegen "die Ausländer" wehren. Die wollten mich nämlich nicht weiterlaufen lassen. Dabei hatte ich lediglich gefragt, ob ich den kleinen Griller, den man schon eineinhalb Kilometer vor der Brigittenauer Bucht in der kalten, sonnigen Februarluft riechen konnte, fotografieren dürfe. Aber das war den drei fröhlichen Gesellen zu wenig: "Bleib hier und iss mit. Wir haben genug", strahlten sie mich an.

Foto: thomas rottenberg

Ich hatte da gerade ziemlich genau einen Halbmarathon in den Beinen, vergaß prompt, die korrekte Zeit zu dokumentieren, schätzte dann zu Hause, dass das wohl ein oder zwei Minuten unter der Zwei-Stunden-Grenze gewesen sein müsste, trug diese Zeit beim Eisbärlaufcup ein und sah am Abend, dass ich damit in etwa den 70. Gesamt- und den 19. Altersklassenplatz gemacht hatte.

Plätze in der Kategorie "vollkommen wurscht" also. Aber ich weiß, dass auch solche Platzierungen im Kampf um die silberne Haselnuss vielen Menschen wichtig sind. Daher: Sollten Sie sich von mir verdrängt oder gar betrogen fühlen: Melden Sie mich, lassen Sie mich zurückstufen. Oder disqualifizieren – und genießen Sie es, für Gerechtigkeit gesorgt zu haben. Ich entschuldige mich sogar. Aber: Schuld sind natürlich andere. "Die Ausländer."

Foto: B.Strolz

Andererseits gibt mir das die Möglichkeit, hier über virtuelle Läufe, virtuelle Wettkämpfe und virtuellen Sport zu extemporieren. Und sogar einen Querverweis aufs "Zwiften" einzubauen.

Falls Sie (was ich aber eher nicht glaube) davon hier und jetzt das erste Mal lesen: "Zwiften" ist das Ergebnis eines besoffenen One-Night-Stands eines Hometrainers mit einer Spielkonsole. Also die Kombination vom Radfahren auf der Rolle daheim mit Onlinegaming. In diesen virtuellen Welten fahren da mittlerweile Millionen entweder allein oder in Gruppen. Und im Gruppenfahrmodus kann man – qua Cyber-Gummiband – sogar im Rudel zusammenbleiben, wenn jeder und jede unterschiedlich stark oder unterschiedliche Trainingsprogramme fährt.

Das ersetzt gemeinsame Ausfahrten zwar nicht wirklich, aber eben doch ein bisserl: Wir überlegen gerade, statt der Chatfunktion (tippen Sie mal bei Volllast …) parallel zum "Zwiften" zu "zoomen". Ja eh: "Dings." Na und?

Foto: screenshot

Mit das Faszinierende beim Plaudern übers Zwiften oder virtuelle Wettrennereien ist, dass Menschen, die weder das eine noch das andere tun, dann gerne behaupten, dass es sich dabei nicht um Sport handle. Also zumindest nicht um "echten" Sport. Ich antworte darauf ganz gerne mit einem Zitat der steirischen Freistilringer- und Telefonbuchzerreißlegende Otto Wanz.

Als ich den vor 1.000 Jahren einmal fragte, ob es nicht seltsam sei, immer nur gestellte Kampfrituale abzuspulen, sagte er einfach: "Stell einen Sessel auf den Tisch. Kletter rauf, spring runter und fang dich mit dem Brustbein ab: Das ist echt. Dann kletter nochmal rauf, mach genau das Gleiche – aber tu dabei nur so, als ob. Und jetzt erklär mir den Unterschied."

Foto: thomas rottenberg

Keine Frage: Über die Vergleichbarkeit der sportlichen Leistung bei virtuellen Wettkämpfen und Wettbewerben kann man diskutieren. Oder auch streiten. Aber: Cui bono? Wenn mir auf Zwift Männer um die Ohren fahren, die laut ihren Userprofilen etwa so alt und groß wie ich sind, aber angeblich nur 50 Kilo wiegen und deshalb schier unglaubliche Watt-pro-Kilogramm-Werte (maßgeblich für die Geschwindigkeitsberechnung) treten? Jo eh.

Und wenn jemand bei einem virtuellen Wettlauf just dort, wo die U-Bahn parallel zu seiner oder ihrer Laufstrecke fährt, plötzlich in der Eliud-Kipchoge-Liga rennt? Gratuliere! Aber: So what? Auch wenn ich die Motivation dazu nicht nachvollziehen kann: Wen bescheißt man da schon groß – außer sich selbst? Außerhalb der kleinen Laufblase interessiert ein (noch dazu virtueller) Altersklassen-Stockerlplatz genau niemanden – und in der Blase durchschauen einen die meisten Leute ohnehin.

Foto: thomas rottenberg

Und die Leute, die da beim Schummeln "erwischt" werden, sind meistens genau die, die gar nicht bewusst geschummelt haben. Ein Beispiel? Wings-For-Life-Worldrun-Chefin Anita Gerhardter erzählte mir, als ich sie und WFL-Fundraiser Wolfgang Illek unlängst zufällig bei einer Spendenscheckübergabe der Sportunion mit Sportunion-Präsident Peter McDonald traf: Ein App-Run-Teilnehmer habe letztes Jahr sein den Lauf mittrackendes Handy seiner Begleiterin am Rad gegeben. Der Bewegungssensor des Telefons habe aber erkannt, dass das Gerät nicht laufend, sondern rollend unterwegs war – und ein DSQ (disqualified) gemeldet. Obwohl der Läufer nachweislich korrekt gelaufen war.

Wieso das relevant ist? Der Worldrun wird heuer ausschließlich per App, also virtuell, abgehalten. Und Läuferinnen und Läufer, die der Einsamkeit eines (virtuellen) Marathonlaufs durch "Bikecoaching" (aka "Begleitponys") entgehen wollen, sollten das Bedenken, wenn sie in den Wertungslisten aufscheinen wollen.

Foto: thomas rottenberg

Der Worldrun findet am 9. Mai statt (also am Muttertag). Und dass er nicht als Großevent ("Flagshiprun"), sondern nur per App stattfinden wird, bestätigt im Nachhinein die Vorsicht all jener, die Frühjahrs- und Sommerevents in den Herbst verlegten – auch wenn das die MacherInnen vieler "traditionell" im Herbst stattfindenden Bewerbe vergrätzt. Ich verstehe beide Seiten, weiß aber auch keine echte Alternative. Nicht für die Veranstalterszene, aber auch nicht für das Laufvolk. Hin und wieder einen virtuellen Wettkampf zu laufen ist eh ganz okay – aber in Wirklichkeit und auf Dauer ist App-Rennerei halt doch reichlich unsexy.

Foto: thomas rottenberg

Ganz abgesehen davon, dass man auch für virtuell ausgetragene Wettkämpfe halt real trainieren muss: wenn man nicht nur läuft und Rad fährt, auch Schwimmen. Und bei aller Liebe zu gelegentlichen Eis- und Kaltwassersessions, bedeutet richtiges Schwimmen halt, länger als zehn oder fünfzehn Minuten im Wasser zu sein. Doch das dürfte "Normalos" wohl noch länger schwer bis gar nicht möglich sein, meint Mario Fink.

Fink ist unter anderem Schwimmtrainer im Berndlbad, meiner Indoor-Schwimm-Homebase. Als wir einander am Sonntag zufällig am Donaukanal trafen, plauderten wir kurz: Davon, vor der Öffnung der Freibäder irgendwo (drinnen) ins Wasser zu dürfen, könne man zwar träumen, meinte er – aber damit rechnen sollte niemand. "Am ehesten Vereinssportler."

Könnte bitte jemand "zwimming", virtuelles Bahnenschwimmen, erfinden?

Foto: thomas rottenberg

Trotzdem: Unterkriegenlassen und Trübsalblasen sind keine Option. Darum steht Kaltwasserschwimmen immer noch und fix auf meiner To-do-Liste. Um Wasser zumindest zu fühlen. Zusatz: "Irgendwann demnächst bald wieder." Einstweilen begnüge ich mich halt mit Gummiseil-Schwimmzugtraining auf dem Balkon – obwohl das außer elend und langweilig nur langweilig und elend ist. Und die Kinder meiner Nachbarn laut und lachend an meinem Geisteszustand zweifeln, wenn ich vornübergebeugt "kurble".

Foto: thomas rottenberg

Dass wir bei der Eisbär-Runde diesen Sonntag Eisschwimmpräsident und -Weltmeister Josef Köberl bei der Neuen Donau sahen und knapp unterhalb der Brigittenauer Bucht dann eine Frau – ohne Neopren – aus dem Wasser kam, macht daher dieses Geständnis unvermeidbar: Ich bin eben doch ein Warmduscher – andere sind noch "dingser" als ich.

Foto: thomas rottenberg

Obwohl das in Wirklichkeit ja vollkommen egal ist.

Weil es um ganz was anderes geht: "Dings sein" hilft dabei, nicht durchzudrehen.

Jedem und jeder auf seine oder ihre Art. Das ist gut, richtig und wichtig so:

Vor einem Jahr hätten wir uns wohl alle an die Stirn getippt, wenn wir im Februar Menschen mit Picknickdecke und Picknickkorb bei Minusgraden im Park gesehen hätten. Heute nicken wir nur – und schauen höchstens, welches Thermogeschirr da verwendet wird oder wie dick die Isomatte unter der Decke ist. Und wenn beim Kaisermühlenparkplatz Kite- und Wingsurfer über die nur knapp nicht zufrierende Neue Donau brettern, findet das kaum jemand "verrückt" – sondern fragt: "Kann ich das auch lernen?" Weil "Dings" längst das neue Normal ist.

Foto: thomas rottenberg

Das hat auch sein Gutes.

Etwa dann, wenn mir ziemlich genau bei der Halbmarathondistanz dieses zweiten Laufes der virtuellen Eisbär-Serie Grillgeruch in die Nase steigt: Wer wäre vor einem Jahr bei null Grad zum Grillen auf die Insel gefahren? Auch das ist eine der freundlich-sympathischen Ausformungen von "Dings".

Dass mich die drei Männer dann nicht weiterlaufen ließen, hat dann halt meine Zeitmessung zur Schätzung gemacht. Falls sich also jemand übervorteilt oder zu Unrecht überholt fühlt: Sorry.

Viel wichtiger als die Entschuldigung ist mir aber etwas anderes:

Ich möchte mich noch einmal bei den drei Grillmeistern bedanken. Denn obwohl und gerade weil ich meinen Fleischkonsum massiv reduziert habe: Die Häppchen schmeckten grandios – und fühlten sich ein bisserl wie das erste "Auswärts-Essen" seit gefühlt Jahrzehnten an. (Tom Rottenberg, 16.2.2021)

Weiterlesen:

Rollentrainer: Daheim radeln – auch im Wettbewerb

Foto: thomas rottenberg