Einsam in Richtung Berge: Weil in Tirol die südafrikanische Covid-Variante kursiert, verhängte Deutschland rigorose Einreisebeschränkungen. Ist das angesichts relativ niedriger Infektionszahlen überzogen?

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Ein abgeschottetes Land, in dem ein gefährlicher Mutant grassiert: Tirol ist als Virenschleuder der Republik verschrien. Dabei zeichnen aktuelle Zahlen ein anderes Bild. Die Infektionsrate ist seit Anfang Jänner stark gesunken. Mit 77,5 Covid-Fällen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen liegt Tirol in Österreich nach Vorarlberg mit Stand Dienstag später Nachmittag am besten.

Tirol ist nicht gleich Tirol. Während Innsbruck Stadt und Land mit 44 beziehungsweise 32 Fällen extrem gut abschneiden, rangieren andere Bezirke über dem Bundesdurchschnitt von 108 Fällen. Aber auch diese stechen nicht besonders hervor. Als schlechtester Tiroler Bezirk liegt Reutte auf Platz elf in der Worst-of-Liste Österreichs, davor liegen Bezirke aus fünf verschiedenen anderen Bundesländern.

Keine Kontaktperson auslassen

Die Verantwortlichen im "heiligen Land" begründen den Erfolg mit dem eigenen Wirken. Angesichts der neuen Bedrohung habe man das Contact-Tracing ausgebaut, sagt Elmar Rizzoli, Leiter des Tiroler Einsatzstabes. Bei Verdacht auf Ansteckung durch eine mutierte Variante würden die Kontakte des Betroffenen in jedem Fall nicht bloß – wie es Standard ist – 48 Stunden, sondern die doppelte Zeit zurückverfolgt. Nicht nur enge Kontaktpersonen würden getestet, sondern alle, die mit dem Infizierten irgendwie in Berührung kamen. Seien gerade genug Kapazitäten verfügbar, wende man dieses Prinzip auch in gewöhnlichen Fällen an, sagt Rizzoli.

Ist das die Erklärung? Wäre Tirol beim Testen besonders eifrig, dann müsste sich das in der Statistik niederschlagen. Doch so eindeutig sind die Daten nicht. Mit gut 71.000 PCR-Tests seit Beginn der Pandemie rangiert das Land zwar insgesamt an zweiter Stelle hinter Wien. Doch gerade in jüngster Vergangenheit lag die Zahl sämtlicher Testungen – Antigen-Schnelltests plus die genaueren PCR-Tests – laut Ages-Daten lediglich im oder unter dem Durchschnitt.

62 Prozent der Ansteckungsfälle werden in Tirol derzeit aufgeklärt, das ist Platz drei in Österreich. Wien liegt als Spitzenreiter bei 67 Prozent, der Bundesschnitt beträgt 58 Prozent.

Regeln besser beachtet

Der Osttiroler Labormediziner Gernot Walder sieht unterm Strich sehr wohl Fortschritte beim Testen, aber ebenso einen heilsamen Effekt der hitzigen Debatte ums Land: "Vielen Leuten ist bewusst geworden, dass sie die Sache nicht auf die leichte Schulter nehmen dürfen." Auch Dorothee von Laer, Virologin an der Med-Uni Innsbruck, vermutet gewachsene Motivation bei der Einhaltung der Corona-Regeln: "Aber wissenschaftlich belegen kann ich das nicht."

Einen Widerspruch zu ihrem Aufruf zur Isolierung Tirols, der sie – wie sie selbstironisch anmerkt – zur "beliebtesten Bürgerin des Landes" gemacht hat, sieht von Laer nicht. Die Gefahr der mutmaßlich ansteckenderen und impfresistenteren südafrikanischen Mutation bilde sich in den aktuellen Zahlen nicht ab, sondern betreffe die Zukunft: "Dieses Feuer ist noch nicht ausgetreten."

Die Gefahr der Mutation

Wie groß das Risiko eines Flächenbrandes tatsächlich ist, bewerten die Experten allerdings unterschiedlich. Stefan Thurner, Chef des Complexity Science Hub (CSH) in Wien, zählt wie von Laer zu jenem Kreis, der ein rigoroses Einschreiten in Tirol befürwortete. Trete eine derartige Virusvariante auf, dann sei das so, als ob die Pandemie von neuem beginnen würde. Da gebe es keine Zeit zum Diskutieren, sagt er, da gehe es um rasches regionales Eindämmen: "Wahrscheinlich sind wir in Tirol schon viel zu spät."

Walder hingegen vermisst "harte Daten", die wirtschaftlich so schädliche Restriktionen wie Grenzsperren rechtfertigten. In den Gebieten, wo die südafrikanische Mutation aufgetreten ist, seien die Infektionszahlen nicht exorbitant emporgeschnellt, argumentiert er: Im Tiroler Bezirk Schwaz, Hotspot der gefürchteten Variante, liegen die Fallzahlen pro sieben Tage und 100.000 Einwohner im Österreichschnitt.

Generell stimmt Walder nicht in die Kritik an den jüngst beschlossenen Lockerungen des Lockdowns ein. Ein sprunghafter Anstieg der Infektionszahlen wie im Herbst zeichne sich in den Daten nicht ab, urteilt er: "Wir fahren derzeit in relativ sicheren Gewässern. Lockerungen sind angebracht."

Vergleichsweise optimistisch gibt sich auch Niki Popper. Via Ö1 lobte der Simulationsforscher die Strategie aus umfassenden Tests plus schneller Isolierung von Infizierten: "Tirol ist eine Erfolgsgeschichte." (Gerald John, 16.2.2021)