Zwischen fünf und zehn Minuten raste im April in Wien ein Berauschter der Polizei davon. Erst ein Unfall stoppte ihn, nun muss sich der 51-Jährige vor Gericht verantworten.

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Wien – Boris W. ist keiner der typischen Drogenabhängigen, die man sonst als Angeklagte im Landesgericht für Strafsachen W. sieht. Der 51-Jährige hat zwar ohne Zweifel ein Suchtproblem, ist aber dennoch gutsituiert. Richterin Erika Pasching erzählt der Selbstständige, dass er im Monat auf rund 2.800 Euro netto kommt. "Schulden?", fragt Pasching. "Nein." – "Vermögen?" – W. zögert kurz. "Hier steht, Sie haben ein Haus", sieht die Richterin in ihren Unterlagen. "Das habe ich verkauft." – "Dann müssen Sie ja Barvermögen haben." – "Damit habe ich Schulden getilgt. Ein wenig Geld habe ich noch", erklärt der Angeklagte. "Wie viel?" – "Ungefähr 250.000 Euro."

Dieser solide finanzielle Background überrascht auch deshalb etwas, da W. definitiv kein "ungetrübtes Vorleben", wie es im Juristendeutsch heißt, hat. Zehnmal saß er schon vor einem Gericht, was zu neun Vorstrafen geführt hat. Dieses Mal geht es um einen Vorfall vom 27. April 2020: Er flüchtete mit seinem Auto vor einer Polizeikontrolle, gefährdete zumindest eine Passantin, zwei Polizisten wurden bei der Aktion verletzt.

"Hirnrissige Idee"

Eine Aktion, die W. selbst als "hirnrissige Idee" bezeichnet. Seine Mutter war am 8. April verstorben, ein paar Tage vor dem angeklagten Vorfall war das Begräbnis. W. war psychisch am Boden, am 27. April konsumierte der Teilnehmer des Substitutionsprogrammes zusätzlich Morphium, Kokain und Cannabis. "Dann habe ich mir gedacht, ich fahre ziellos mit dem Auto, um den Kopf freizubekommen. Was ohne Führerschein natürlich ein verblödeter Gedanke ist", gibt der Angeklagte zu. Eine Fahrerlaubnis hat er nämlich nie erworben.

Der Ausflug wurde durch eine Polizeikontrolle beendet. "Ich geriet in Panik, da ich auch Kokain im Auto hatte", gibt W. zu. Er stieg auf das Gaspedal, lieferte sich eine minutenlange Verfolgungsjagd durch Wien-Leopoldstadt und kollidierte schließlich mit einem Streifenwagen. Dass er bei seiner Flucht eine Straßensperre in Zentimeterarbeit umkurvt, eine ältere Fußgängerin auf dem Schutzweg gefährdet hat und einem künstlich erzeugten Stau über den Gehsteig ausgewichen ist, wisse er nicht mehr, behauptet der Angeklagte. "Ich kann mich erst ab dem Crash wieder erinnern. Die Polizei kam mir entgegen, und dann hat es gekracht."

Doch keine volle Berauschung

Die Staatsanwaltschaft meint, dass W. das Polizeiauto gerammt und damit einen Widerstand gegen die Staatsgewalt begangen hat. Angeklagt ist er allerdings wegen Begehung einer Straftat im Zustand voller Berauschung. Was Richterin Pasching überprüfen wollte, also beauftragte sie die psychiatrische Sachverständige Gabriele Wörgötter mit einem Gutachten.

Die kommt zum Schluss, dass W. sehr wohl wusste, was er tat und nicht völlig berauscht gewesen ist. "Er machte eine Spritzfahrt, um seine Stimmung zu bessern, und ist in panischem Zustand vor der Polizei davongefahren", führt Wörgötter aus, also seien dem Angeklagten die drohenden Konsequenzen sehr wohl bewusst gewesen. W. sei durch das Suchtgift "enthemmt" gewesen und habe eine "beeinträchtigte Dispositionsfähigkeit" gehabt, sei aber zurechnungsfähig gewesen.

Interessant ist die Befragung der drei Polizisten, die in dem verunfallten Wagen saßen. Die Beamten sind alle überzeugt, dass W. sie gerammt habe. Richterin Pasching zeigt allen Zeugen die nach dem Unfall aufgenommenen Bilder: Warum der Polizeiwagen vorne, W.s Mercedes aber an der Seite beschädigt ist, kann sich keiner der Polizisten erklären.

Freispruch für Kollision

Pasching schon, wie sie in ihrer Urteilsbegründung ausführt. Es gebe nämlich auch einen Amtsvermerk unmittelbar nach dem Vorfall, wonach die Kollision durch den Funkwagen verursacht worden sei. Die Richterin geht nach den Erklärungsversuchen der exekutiven Zeugen davon aus, dass dem Lenker ein Fahrfehler unterlaufen sei – und spricht W. daher vom Widerstand gegen die Staatsgewalt frei.

Zu zehn Monaten bedingt wird er dennoch nicht rechtskräftig verurteilt: wegen Gefährdung der körperlichen Sicherheit der Fußgängerin sowie grob fahrlässiger schwerer Körperverletzung eines anderen Polizisten, der bei einem ersten Anhalteversuch unglücklich überknöchelte und sich ein Band riss. Diesem Beamten muss W. auch 4.070 Euro Schmerzensgeld zahlen. (Michael Möseneder, 18.2.2021)