Jahrzehnte später erzählt Vanessa Springora, wie das damals war. Viel früher wäre es wohl nicht gegangen, wie bei so vielen Betroffenen.

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Es ist wirklich immer wieder aufs Neue erstaunlich, was es alles braucht, damit sexualisierte Gewalt ernst genommen wird. Frankreich liefert dafür derzeit ein gutes Beispiel: Wenige Jahre nach #MeToo gibt es jetzt dort eine neuerlichen Welle an Enthüllungen von Übergriffen auf Frauen, jahrelangem Missbrauch und unsäglicher Gewalt gegen Kinder.

Vor gut einem Jahr veröffentlichte die Verlegerin Vanessa Springora das Buch "Die Einwilligung", in dem sie ihre Geschichte mit dem Schriftsteller Gabriel Matzneff erzählt. Der war damals 50 Jahre alt und ein Literaturstar in Frankreich. Springora war 14 Jahre alt und damit noch ein Kind. Eindringlich beschreibt sie, wie sie von dem umjubelten und damit fast als sakrosankt geltenden Matzneff manipuliert und missbraucht wird.

Alle haben weggeschaut, niemand hat sich eingeschaltet. Springora beschreibt das Klima der gesellschaftlichen Legitimation für das, was nicht hätte passieren dürfen. Sie nennt sich zwar selbst im Rückblick "verliebt", aber gut, sie war 14 und begriff erst spät die Übermacht eines prominenten Intellektuellen. Erst Jahre später bereitete ihr die damalige gesellschaftliche Solidarität mit ihm statt mit ihr schwere psychische Probleme. Alle wussten, dass Matzneff "Beziehungen" mit Minderjährigen und Kindern unterhält – und alle schauten ihm dabei zu, damals in den 1980ern. Andere Intellektuelle verteidigten ihn sogar.

Intellektuelle vereidigten

Und Matzneff vereidigten offen die Pädophilie: Er setzte sich Ende der 1970er-Jahre in einem offenen Brief für drei Männer ein, die wegen Missbrauch von 13- und 14-Jährigen vor Gericht standen. Die Männer fotografierten die Kinder auch während des Missbrauchs. Überwiegend linke intellektuelle Größen wie Gilles Deleuze, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, André Glucksmann oder Roland Barthes haben den offenen Brief damals auch unterschrieben, in dem von einem "schlichten 'Sittenskandal'" zu lesen war, immerhin hätten die Kinder dem "Untersuchungsrichter versichert, dass sie eingewilligt hätten". "Eingewilligt", das hat die damals 14-jährige Springora auch. Doch in welchem Klima? In welchem Umfeld, das die Über- und Definitionsmacht von Männern als selbstverständlich erachtet, dass sie sich einfach nehmen, was sie wollen?

Der "Prüderie" bezichtigt zu werden, dieses Risiko wollte damals offenbar keine*r eingehen. Man gab sich einer völlig eindimensionalen Vorstellungen einer vermeintlichen sexuellen Freiheit hin, die man meinte, mit den 68'ern doch ganz gut hingekommen zu haben. Die heute 46-jähre Springora hat damit ein schmerzhaftes Schlaglicht auf den Umgang mit sexualisierter Gewalt geworfen, den wir mitnichten überwunden haben. Insbesondere wenn berühmte und bewunderte Männer involviert sind. Und es ist ebenso schmerzhaft zu sehen, dass die Debatte über Missbrauch und Übergriffe bis heute mit Schlagwörtern wie "Zensur" flankiert wird. 2018, kurz nach dem ersten großen Aufwallen der #MeToo-Welle hatten 100 Frauen nichts anderes zu tun, als sich in der französischen Zeitung "Libération" zu Wort zu melden, weil sie sich um die "Verführung à la francaise" sorgten. Mit Blick auf die damals noch frische #MeToo-Debatte warnten sie vor einem "Klima einer totalitären Gesellschaft". Absurder geht es wohl kaum noch.

Höchste Zeit

Wie absurd, das zeigen aktuelle Vorwürfe, die das Ausmaß der herrschenden sexualisierten Gewalt erahnen lassen. Die Juristin Camille Kouchner, Tochter des Ärzte-ohne-Grenzen-Gründers und früheren Außenministers Bernard Kouchner, erhob schwere Vorwürfe gegen ihren Stiefvater, den bekannten Politikwissenschafter Olivier Duhamel. In ihrem im Jänner veröffentlichen Buch "La Familia grande" warf sie Duhamel vor, ihren Zwillingsbruder im Alter von 14 Jahren missbraucht zu haben. Das mutmaßliche Opfer hat inzwischen Anzeige erstattet. Nach der Veröffentlichung berichteten tausende Franzosen und Französinnen auf Twitter von sexuellen Übergriffen in Familien, aber auch an Hochschulen. So berichteten Studentinnen von Übergriffen an der Elitehochschule Sciences Po, bei denen Universitätsleitung einfach weggeschaut oder Täter geschützt hätte.

Und jetzt, erst jetzt, soll endlich auch in Frankreich ein explizites Schutzalter gesetzlich festgeschrieben werden, das "einvernehmlichen Sex" eines Erwachsenen mit einem Kind strafbar macht. Jetzt, nach einer beispiellosen – weiteren – Serie von Missbrauchsvorwürfen. Es braucht offenbar wirklich verdammt viel, damit sich hierzu etwas bewegt. (Beate Hausbichler, 24.2.2021)