Martin Mosebach feiert in seinem neuen Erzählwerk die Vorzüge charismatischen Unternehmertums: Held ist ein Waffenschieber mit Ausstrahlung.

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Das Leben von Menschen in Martin-Mosebach-Romanen gehorcht verlässlich ein- und demselben Prinzip. Alle bemühen sich, obwohl vom Schicksal mit Blindheit geschlagen, darum, sich wider die Sprachgewalt ihres Autors zu behaupten. Der Frankfurter Mosebach, ein ebenso akklamierter wie des Leerlaufs verdächtigter Stilist von beinah 70 Jahren, rollt vor seinen Helden bevorzugt reich ornamentierte Prosateppiche aus.

Die Sprache des Büchner-Preisträgers verschluckt erfolgreich jeden Anflug von Gegenwartslärm. Figuren wie der aktuell titelgebende Ralph Krass, ein kraftstrotzender Machtmensch und maulfauler Waffenschieber, nehmen, sobald sie die Menschen in ihrer Umgebung ausgiebig geknechtet haben, umständlich auf "Sophas" Platz. Man hört förmlich die Federn, nicht nur die Bediensteten springen.

"Krass" erzählt in drei mächtigen Erzählbögen von der unhinterfragten Autokratie eines "Superreichen". Krass reist in Begleitung einer dekadenten Entourage an den Golf von Neapel. Ein hasenherziger Kunstgeschichtler namens Jüngel fungiert als sein Blitzableiter. Geschrieben wird das Jahr 1988; noch lassen sich im Niemandsland zwischen den Supermachtblöcken mit den Ängsten der Menschen zynisch Geschäfte machen. Im Grunde möchten die Vertreter des Mittelstands kleine Funktionsträger sein. Sie fühlen sich angenehm überwältigt von der Verfügungsgewalt eines Kraftlackels, der das Haupt eines antiken Pyknikers auf den Schultern trägt.

Krass‘ Charisma beruht auf Alchemie. Man weiß nicht, wie es geschieht, aber selbst honorige Akademiker schrumpfen in der respektgebietenden Gegenwart dieses Popanzes auf Lakaienformat zusammen. So kommt es, dass Krass bloß mit den Fingern zu schnippen braucht, schon muss ihm Jüngel eine verfallene Villa auf Capri auftun oder eine geheimnisvolle Schöne mit Vornamen Lidewine (sic!) als platonische Gespielin zuführen.

Kraft durch Genialität

Unternehmerisch gesinnte Geister wie der Titelheld bewegen sich auf einem Reflexionsniveau, das mit den in Nachwende-Zeiten gewonnenen Einsichten nicht durchwegs Schritt hält. "Die Kraft eines Genies besteht darin, die Realität seinem Willen zu unterwerfen und nach seinem Willen zu formen." In Mosebachs 530-Seiten-Roman gehen solche Äußerungen schon deshalb nicht als Figurenrede durch, weil der Ton hier die Prosa macht. Er ist durchgängig gravitätisch, manierlich und putzmunter. So als trügen die handelnden Personen unsichtbare Stoffservietten um den Hals.

Zugleich ist der hohe, angeblich an Thomas Mann geschulte Stil allein gültige Währung in diesem bemerkenswert anämischen Kosmos. Obwohl die Handlung Monsieur Jüngel in die französische Provinz verschlägt. Woraufhin er, nach einem Salto vorwärts ins Jahr 2008, nach Kairo katapultiert wird. Überall gleichen einander die Schauplätze aufs Haar. Es herrscht das milde, in Maßen resignative Klima eines Wertebewusstseins, das sich schon deshalb ausreichend konservativ zu sein dünkt, weil es den kleinen Finger possierlich von der Porzellantasse abspreizt.

Menschen, die mit weniger Durchsetzungskraft gesegnet sind, gehen nicht etwa vor die Hunde, sondern sie machen, in Mosebachs Diktion, "Bankerott". Da animiert der Blick auf eine Abteikirche zu An- und Einsichten von ausgesuchter Gönnerhaftigkeit: "Das Alte kann nicht altmodisch werden, das Alte hat das Warten gelernt. Unablässig sinkt das Modische vor ihm dahin…" Dabei ist die Sicherung des Bestehenden nur um den Preis seiner Vernichtung zu haben: "Als ob die wirkliche Probe der Dauer nur bestehen könnte, was vorher gründlich stirbt."

Zentimeterdicker Staub

Gestorben wird auch bei Mosebach, und es ist kein Zufall, dass es unter allen Figuren ausgerechnet die stärkste trifft. Aus Jüngel ist unterdessen ein Städteplaner geworden. Den Zynismus, den dieser Mann ohne Eigenschaften von Ralph Krass erst erlernen musste, hat er ins eigene Herz verpflanzt.

Krass bildet noch im Untergang die leere Mitte dieses weitschweifigen Werks. In ihm begegnen die Menschen einander in den Nekropolen eines Schwellenlandes wieder, um dort ihre Liebesprobleme zu schlichten. Krass tritt nicht etwa mit einem Paukenschlag ab. Er gleitet langsam hinüber in eine Unterwelt, auf der zentimeterdick Erzählstaub liegt. Die kommenden Umwälzungen des Arabischen Frühlings sind noch nicht einmal am Horizont erkennbar. Für die Verwerfungen einer Welt im Umbruch bringt der Konservative kein Interesse auf. Er paktiert ja mit der Ewigkeit. (Ronald Pohl, 19.2.2021)