Die EU der Nationalstaaten ist für Aleida Assmann auch ein Versicherungssystem gegen Nationalismus. Zu viel Zentralismus sieht sie hingegen skeptisch.

Heribert Corn

Ihre Forschung über kollektives Gedächtnis hat Generationen von Kultur- und Sozialwissenschaftern geprägt. In ihrem jüngsten Buch Die Wiedererfindung der Nation – warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen (C. H. Beck) stellt sich Aleida Assmann nun einer Frage, die aus ihrer Sicht zu lange unbeleuchtet blieb, die sich nun aber angesichts von Rechtspopulismus, Identitäts- und Separationskämpfen in Europa und den USA drängender denn je stellt.

STANDARD: Warum wir die Nation fürchten, dürfte klarer sein als die Frage, warum wir sie brauchen. Warum ist sie noch immer wichtig?

Assmann: Es gibt an den Universitäten seit 30 Jahren die Tendenz, die Nation zu tabuisieren. Sie ist fast ein N-Wort geworden. Ich wende mich aus einer linksliberalen Position heraus gegen extreme Linke, die meinen, Nationen seien abzuschaffen, und versuche, bei ihnen Gehör zu bekommen. Auf dem ultrarechten Spektrum habe ich diese Hoffnung weniger, weil die sich sehr festgelegt haben. Ich halte es mit Ralf Dahrendorfs Plädoyer für eine "heterogene Nation" von 1994: "Wer immerfort dem Nationalstaat das Totenglöckchen läutet, der zerstört damit auch das Fundament von Rechtsstaat und Demokratie."

STANDARD: Nation heißt also nicht sofort Nationalismus und schlimmstenfalls Faschismus, sondern zunächst Demokratieentwicklung?

Assmann: Ja. Und das Faszinierende an der heutigen Europäischen Union ist für mich, dass es hier Nationen, die fast alle Diktaturen waren, gelungen ist, sich selbst in einem Verbund zu zähmen und die demokratischen Prinzipien zu schützen. Das ist einmalig.

STANDARD: Dennoch bröckelt dieser Verbund immer mehr, was auch mit Erinnerung zu tun hat. Fühlen sich ehemalige Ostblockstaaten durch mehr und mehr EU-Zentralismus gedanklich in die Sowjetunion zurückversetzt?

Assmann: Tatsächlich sprach der polnische Präsident, als er das Haus der europäischen Geschichte in Brüssel besucht hatte, von Brüssel als dem neuen Moskau. Der Grund war, dass er dort das Heiligste, was es für ihn gibt, nämlich die polnische Nation, nicht finden konnte. Und ja, es gibt Mitgliedstaaten wie Polen oder Ungarn, die inzwischen die EU offen zu ihrem Feindbild erklären. Dieses Problem wird in der EU aber auch permanent diskutiert. Dass diese Staaten nicht einfach konsequent aus der EU ausgeschlossen werden, hängt damit zusammen, dass es in beiden Staaten auch starke zivilgesellschaftliche Bewegungen gibt, die man damit nicht einfach im Stich lassen möchte.

STANDARD: Sie gehen bei der Frage Europas in Opposition zur Politologin Ulrike Guérot und zum Schriftsteller Robert Menasse, die sich eine europäische Republik wünschen – ein Europa der Regionen anstelle der Nationen. Warum?

Assmann: Ich habe Sympathien für die Intention, den rechtlichen Status aller EU-Bürger anzugleichen. Was ich aber anders als Robert Menasse nicht glaube, ist, dass Nationen ihrem Wesen nach immer nationalistisch sind. Ich sehe die EU als ein Versicherungssystem dagegen. Bei Guérot fehlt mir die kulturelle Dimension. Als Politologin mag sie bei politischen Strukturen recht haben, aber sie unterschätzt die soziale Kraft der Nationen.

STANDARD: Viel ist heute die Rede von gespaltenen Nationen. In den USA richtete Black Lives Matter den Zorn gegen Denkmäler des rassistischen Amerika, rechte Trump-Anhänger haben fast postwendend das Kapitol gestürmt. Was passiert bei solchen symbolischen Aktionen?

Assmann: Es gibt dort keinen Minimalkonsens über die gemeinsame amerikanische Geschichte. Diese Nation hat sich nie auf der Basis einer gemeinsamen Geschichte, sondern aufgrund einer gemeinsamen Zukunftsvision zusammengeschlossen. Das war der amerikanische Traum, von dem die schwarze Bevölkerung weitgehend ausgeschlossen war. Die besondere Geschichte der Schwarzen ist in diesem Land nie anerkannt worden.

STANDARD: Sie sprechen in Ihrem Buch den US-Politologen Francis Fukuyama an, der die neuen Identitätskämpfe als berechtigt, aber auch schädlich für den sozialen Zusammenhalt sieht. Er fordert, alle Gruppen unter einer inklusiven Form des Nationalismus zu vereinen. Was unterscheidet Ihr Konzept von dem Fukuyamas?

Assmann: Fukuyama stammt selbst aus einer ehrgeizigen asiatischen Einwandererfamilie, die am weißen amerikanischen Traum partizipieren konnte. Er hat für meine Begriffe zu wenig Blick für die schwarze Bevölkerung. Sein Konzept ist die Bekenntnisnation, die zum Beispiel durch den Fahneneid in den Schulen Zusammenhalt schaffen soll. Aber es gibt systemischen Rassismus, dagegen helfen Bekenntnisse nichts. Ich halte es mit James Baldwin, der sagte: Nichts lässt sich ändern, bevor man sich nicht damit auseinandersetzt. Okay, es gibt im Februar den Black History Month: Dann sind vor allem die schwarzen Schulklassen in den Museen unterwegs. Weiße geht das nichts an. Da leben Parallelgesellschaften mit entgegengesetzten Narrativen.

STANDARD: Zum Star von Joe Bidens Angelobung wurde mit Amanda Gorman eine junge schwarze Dichterin. Kamala Harris ist die erste nichtweiße Vizepräsidentin. Wird die Enttäuschung abermals groß sein, wenn "oben" Diversität gelebt wird und sich "unten" an den realen Verhältnissen wenig ändert?

Assmann: Unterschätzen Sie nicht, was Symbolpolitik bedeutet! Da hat Biden einen sehr guten Instinkt bewiesen. Dass Amanda Gormans Auftritt in diese sehr traditionelle Inauguration hineinplatzte, war fast ein zweiter "I have a dream"-Moment. Von Enttäuschung möchte ich erst einmal nicht sprechen. Aber natürlich müssen den Worten Taten folgen.

STANDARD: Schwenken wir noch einmal nach Europa. Sie fordern eine zivile Form der Nation, die sich nicht mehr mithilfe alter heroisierender Kriegserzählungen konstituiert, sondern sich einem aufgeklärten Geschichtsbewusstsein zuwendet, das sowohl zu den Licht- als auch zu den Schattenseiten selbstbewusst steht. Die Bundesrepublik Deutschland ist doch seit den 1980er-Jahren dafür beispielgebend. Warum bricht die alte Erzählung jetzt trotzdem neu durch?

Assmann: Es ist ein archaischer Tiefenstrom, der nie erloschen ist. Aber es gab eine Zeit, da waren rechtsradikale Parolen nicht salonfähig. Vielleicht am Stammtisch, aber nicht in den öffentlichen Medien. Die Nationalisten haben sich immer nur auf ihre Heldentaten berufen, man hat sich einen Sockel gebaut, auf dem das Kollektiv der Nation mit Stolz und Ehre thront. Über die eigenen Verbrechen durfte nicht gesprochen werden, sie galten als "Schande". Das "Denkmal der Schande", so nennt Björn Höcke von der AfD das Holocaust-Memorial in Berlin.

STANDARD: Ein Begriff, der auch von der neuen Rechten kommt, ist "Schuldkult". Überdeckt das Eingeständnis von Schuld und Täterschaft zu oft positive Errungenschaften einer Nation, die es ja auch gibt, etwa in der Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Diplomatie oder Kunst?

Assmann: Das Wort Schuld ist schon lange nicht mehr treffend. Es gibt keine Kollektivschuld, Schuld kann man nur individuell zurechnen. Wir sollten vielmehr von Verantwortung sprechen. Holocaust-Überlebende in den Schulen haben oft gesagt: Ihr habt keine Schuld an den Geschehnissen, aber ihr tragt Verantwortung dafür, dass das nicht noch einmal passiert. Dieser Grundsatz ist motivierend.

STANDARD: Wenn wir jetzt das Konzept inklusive Nation näher betrachten: Braucht nicht jede Nation auch notabene etwas Auszuschließendes, etwas, das eben nicht dazugehört? Unterschiede zu betonen muss ja nicht von vornherein mit Abwertung einhergehen.

Assmann: Differenz zu betonen ist das Normalste auf der Welt. Die Frage ist: Was macht man mit dieser Grenze? Ist sie wie in der EU eine Binnengrenze des gemeinsamen Europäerseins, wo es zwar unterschiedliche Sprachen und Traditionen gibt, aber alles durchlässig ist? Oder will man eine militante Außengrenze, wo es heißt: Wir wollen alles, was hier drin ist, "rein" halten? Das ist der Albtraum der ethnischen Identität, die gewalttätig wird, wenn sie sich gegen den Fremden richtet.

STANDARD: Nun muss man niemanden ernst nehmen, der von ethnischer Reinheit fantasiert – diskutiert wird aber immer wieder eine Form von Leitkultur, die festlegt, welche Sprache gesprochen wird oder welche Geschlechterverhältnisse gelten sollen. Haben Neuankömmlinge in einer Nation auch eine Bringschuld?

Assmann: Ich möchte sowohl den Begriff Bringschuld als auch den der Leitkultur vermeiden. Es mag gut gemeint sein, aber es schafft von vornherein eine Asymmetrie. Man sollte vielmehr umgekehrt vorgehen und zunächst danach fragen, was wir gemeinsam haben, statt das Augenmerk vor allem auf das zu richten, was uns trennt. Ich benutze hier den Begriff der Menschenpflichten. Das sind Regeln des Umgangs miteinander, die es seit 5.000 Jahren in allen Religionen und Kulturen der Welt gibt. 1997 sind diese Menschenpflichten kodifiziert und der Uno vorgelegt worden. Dort sind sie leider in einer Schublade verschwunden. (Stefan Weiss, 19.2.2021)