Martin Nettesheim, Rechtsprofessor an der Universität Tübingen, schreibt in seinem Gastbeitrag über die Gefahren der "Cancel Culture" für die Wissenschaft.

Umsichtige Menschen reagieren auf Risse im Fundament eines Hauses nicht erst, wenn es ins Rutschen gerät. Dieser Tage haben sich mehr als 100 deutschsprachige Wissenschafterinnen und Wissenschafter zum Netzwerk Wissenschaftsfreiheit zusammengeschlossen, um auf mögliche Fehlentwicklungen im Wissenschaftssystem hinzuweisen. Sie sind der Auffassung, dass die Freiheit, Offenheit und Effizienz des heutigen Wissenschaftssystems vor Eingriffen zu schützen ist, die auf eine unangemessene Politisierung abzielen. Sie wehren sich gegen den Versuch, Wissenschaft dadurch zu moralisieren, dass zwischen guten und schlechten Fragestellungen oder zwischen zulässigen und unzulässigen Ergebnissen unterschieden wird.

Bild nicht mehr verfügbar.

Was ist notwendige Kritik, was Zuruf zwecks politischer Einflussnahme? In der Wissenschaft sind viele besorgt.
Foto: Getty Images

Für alarmistische Übertreibungen ist kein Anlass. In den europäischen Staaten ist das Wissenschaftssystem keinen unangemessenen staatlichen Lenkungsversuchen ausgesetzt. Die Veränderungen liegen in der Sphäre des Gesellschaftlichen. Das Wissenschaftssystem ist mit einer Öffentlichkeit konfrontiert, deren Mitglieder zwischen notwendiger Kritik und sachfremder politischer Einflussnahme nicht mehr sicher unterscheiden können.

Kontrolle, Kritik, Sanktion

Die Zahl der Fälle, in denen versucht wird, wissenschaftliche Projekte oder Veranstaltungen deshalb zu unterbinden, weil Thema oder mögliche Ergebnisse nicht gefallen, nimmt zu. Häufig geht es um Eingriffe von außen – von Personen, die mit dem Megafon ihres Twitter-Kanals einen "Shitstorm" auszulösen versuchen, um so auf eine Sphäre einzuwirken, die ihnen früher nicht zugänglich war. In den letzten Jahren war immer wieder zu beobachten, dass Hochschulleitungen den Forderungen, Unliebsames zu unterbinden, zu schnell nachgegeben haben. Die Bereitschaft, Wissenschaftsfreiheit gegen moralisierenden Druck zu verteidigen, muss gestärkt werden. Keine Institution der Wissenschaft darf sich erpressbar machen.

"Einzelne beanspruchen vor dem Hintergrund ihrer Weltanschauung und ihrer politischen Ziele, festlegen zu können, welche Fragestellungen, Themen und Argumente verwerflich sind. Damit wird der Versuch unternommen, Forschung und Lehre weltanschaulich zu normieren und politisch zu instrumentalisieren. (...)
Wenn Mitglieder der Wissenschaftsgemeinschaft aus Furcht vor den sozialen und beruflichen Kosten Forschungsfragen meiden oder sich Debatten entziehen, erodieren die Voraussetzungen von freier Wissenschaft."
Auszüge aus dem Manifest des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit

Das bedeutet nicht, dass Wissenschafter machen können, was sie wollen. Sie müssen sich den internen Mechanismen der Kontrolle, Kritik und Sanktion stellen. Aber dabei kann es nicht darum gehen, ob ihre Fragestellungen und möglichen Ergebnisse gefallen oder nicht.

Veränderungen zeichnen sich auch im Wissenschaftssystem selbst ab. In vielen Fächern und Disziplinen waren in den letzten Jahrzehnten wichtige Bemühungen zu beobachten, traditionelle Perspektiven infrage zu stellen. Bestehende Ansätze und Paradigmen wurden kritisch hinterfragt und dekonstruiert, um so aufzuzeigen, welche Interessen und Machtstrukturen dahinterstehen.

Man bemühte sich darum, die Stimmen und Sichtweisen bislang marginalisierter Personen zum Tragen zu bringen. Um ein Beispiel zu nennen: Das Völkerrecht der Gegenwart wird heute intensiv daraufhin untersucht, ob sich in seinen Institutionen weiterhin westlich-hegemoniale oder koloniale Machtstrukturen ausdrücken. "Critical Studies" nehmen heute in beinahe allen Bereichen der Sozial- und Kulturwissenschaften einen zentralen Platz ein.

Problematisch werden derartige Ansätze, wenn sie sich als Gerechtigkeitsprojekt begreifen, das nicht nur der Beschreibung und Analyse dienen soll, sondern unmittelbar auf eine Verbesserung der Welt abzielt. Dann vermischen sich Politik und Wissenschaft.

Mundtot machen

Wird Wissenschaft vom Ethos getragen, Ungerechtigkeit bekämpfen zu wollen, liegt es nicht nur nahe, zwischen guter und schlechter Wissenschaft zu unterscheiden. Es liegt auch nahe, Meinungsverschiedenheiten nicht als sachliche Auseinandersetzung um das bessere Argument zu begreifen, sondern als Kampf darum, ob sich das Gerechte durchsetzt.

Wissenschaftliche Kontroversen werden dann zu politischen Auseinandersetzungen, die im Namen des Einsatzes für soziale Gerechtigkeit geführt werden. Dann liegt es nahe, den Gegner nicht überzeugen zu wollen, sondern ihn mundtot zu machen und ihm einen legitimen Platz im Wissenschaftssystem abzustreiten. Wer als "Social Justice Warrior" unterwegs ist, kann abweichenden Stimmen keinen Raum lassen. Dies hat dazu geführt, dass sich inzwischen auch im Wissenschaftssystem Tendenzen einer "Cancel Culture" bemerkbar machen.

Natürlich wurde Wissenschaft immer schon im Schatten von Politik und mit Blick auf gesellschaftliche Anliegen betrieben. Der Staat hat sich des Wissenschaftssystems immer schon bedient, um politisch-ideologische Ziele zu verwirken. Die Angehörigen des Wissenschaftssystems können sich dem nicht grundsätzlich entziehen. Sie sollten allerdings die Fähigkeit haben, zwischen der Rolle als Wissenschafter und der Rolle als politische Staatsbürger zu unterscheiden. Wissenschaft muss die gesellschaftlichen Implikationen dessen, was sie macht, im Blick behalten und kritisch reflektieren. Wissenschaft trägt gesellschaftliche Verantwortung. Das Wissenschaftssystem muss sich daher heute mehr denn je fragen, ob es hinreichend inklusiv ist, auch, ob es sich mehr für Perspektiven und Anliegen öffnen muss, denen bislang eine zu geringe Rolle zugewiesen wurde.

Frei, offen, vielfältig

Wissenschaft, die einen gesellschaftlichen Auftrag erfüllt, muss die sozialen Veränderungen aufnehmen, denen die westlichen Gesellschaften der Gegenwart unterworfen sind. Niemals darf ein Wissenschaftssystem allerdings die epistemischen Strukturen zerstören, die erst freie, offene und vielfältige Wissens- und Erkenntnisproduktion ermöglichen.

Wer für soziale Gerechtigkeit kämpfen will, muss dies im politischen Raum machen. Wer Wissenschaft ausschließlich oder vorrangig danach beurteilt, ob sie ein bestimmtes Gerechtigkeitsziel fördert, strebt ein postwissenschaftliches System an, das nicht mehr der Beratung der Politik dienen kann, sondern in ihr aufgeht. (Martin Nettesheim, 19.2.2021)