Bild aus besseren Zeiten: Der damalige US-Vizepräsident Joe Biden mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2015. Jetzt soll es, nach der Ära Trump, wieder besser werden.
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STANDARD: Was haben die Europäer von Joe Biden als neuem US-Präsidenten zu erwarten?

Kupchan: Biden ist der transatlantischste Präsident, den die USA seit Jahrzehnten hatten – ein kompromissloser Verfechter enger Bande über den Atlantik. Er ist ein Fan der Nato, hat sich intensiv mit europäischer Sicherheit beschäftigt. Als Vizepräsident ist er sechsmal in die Ukraine geflogen. Er ist sich darüber im Klaren, welchen Schaden Donald Trump angerichtet hat, und wird das ihm Mögliche tun, um wieder Vertrauen aufzubauen und den Alliierten zu versichern, dass Amerika zu den Bündnispflichten steht. Und er weiß genau, welche Gefahr von Trump und Politikern seines Schlages für die Fundamente der Demokratie ausgeht. Die vergangenen vier Jahre waren beängstigend, erschütternd. Daher wird Biden sagen: "Hey, lasst uns gemeinsam sicherstellen, dass unser way of life auf einem grundsoliden Fundament ruht."

STANDARD: Welchen Spielraum hat Biden überhaupt?

Kupchan: Ich denke, Biden wird den strategischen Rückzug fortsetzen, denn das ist, was die Amerikaner wollen. Das Kapital, das er hat, muss er einsetzen, um innenpolitische Ziele zu erreichen. Besonders in seinem ersten Amtsjahr wird Biden ein innenpolitischer Präsident sein.

STANDARD: Was bedeutet das für die Beziehungen zu Europa?

Kupchan: Dass die USA in der unmittelbaren Nachbarschaft des Kontinents weniger präsent sein werden. Biden dürfte den amerikanischen Fußabdruck im Nahen Osten und in der Mittelmeerregion weiter verkleinern. Daraus folgt, dass Europa dort mehr tun muss.

STANDARD: Wie stark wird der Druck sein, den auch Biden ausübt, damit europäische Nato-Partner mindestens zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung ausgeben?

Kupchan: Den Druck wird es weiterhin geben, das ist auch richtig. Doch das Gespräch wird ein respektvolles sein. Aber es wird zu viel über die zwei Prozent geredet und zu wenig darüber, was ein Land konkret beitragen kann. Die Europäer könnten schon jetzt aktiver werden, etwa in Form einer humanitären Mission in Libyen oder durch einen stärkeren Beitrag zur Stabilität im Südkaukasus. Das wäre mindestens so wichtig wie höhere Verteidigungsausgaben.

STANDARD: Biden will die Europäer dazu bringen, ihre Chinapolitik mit ihm zu koordinieren. Doch die Inter essen sind nicht deckungsgleich ...

Kupchan: China ist in sechs, sieben Jahren die stärkste Volkswirtschaft. Mit einem Bund demokratischer Staaten kann es China allerdings auch dann nicht aufnehmen. Ich halte es für richtig, Peking in Handelsfragen die Stirn zu bieten. Trumps Fehler war, dass er im Alleingang handelte. Die USA werden eine Öffnung des Marktes, fairen Wettbewerb, ein Ende des Diebstahls geistigen Eigentums viel eher erreichen, wenn es China mit einer demokratischen Einheitsfront zu tun bekommt. Auch eine gemeinsame Haltung zur Verletzung der Menschenrechte wäre wichtig. Einfach wird das alles nicht, denn die chinesische Wirtschaft bleibt ein Wirtschaftsmotor, von dem Europäer wie Amerikaner profitieren wollen. Die EU ist ja auch vorgeprescht mit ihrem Investitionsabkommen, obwohl der designierte Präsident Biden signalisierte, man möge dar über erst reden, wenn er im Amt sei.

STANDARD: Was sagt Ihnen das?

Kupchan: Dass es gute und schlechte Tage geben wird, wenn man versucht, die Chinapolitik transatlantisch zu koordinieren. Es wird vieles geben, wo wir übereinstimmen, aber auch manches, wo wir auseinanderdriften. Biden will zunächst vermeiden, dass es im Verhältnis zu China noch weiter abwärts geht. Ob es ihm gelingt, weiß heute niemand.

STANDARD: Wie wird der Streit um die Gaspipeline Nord Stream 2 enden?

Kupchan: Im Moment sehe ich keinen Kompromiss, mit dem jeder leben kann. Bidens Regierung ist gegen die Fertigstellung des Projekts, während die deutsche Regierung auf die Fertigstellung drängt. Sollte es eine Lösung geben, müsste das einhergehen mit einer Verbesserung des Verhältnisses zwischen den westlichen Demokratien und Russland, mit einer Annäherung im Streit um die Ukraine. (Frank Herrmann, 19.2.2021)

Charles Kupchan war unter US-Präsident Barack Obama von 2014 bis 2017 im Sicherheitsrat des Weißen Hauses zuständig für Europa. Er ist Professor an der Georgetown University in Washington und Europaexperte des Council on Foreign Relations.
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