"I just fell in love": Tess Jaray ist tief beeindruckt von gotischer sowie islamischer Architektur. In ihren Bildern legt sie diese Liebe offen.
Foto: Turkina Faso

Fragt man Tess Jaray, worin der Unterschied zwischen ihren Werken aus den 1960er-Jahren und jenen von 2020 besteht, sagt sie: die "jugendliche Unbekümmertheit". Jetzt im Alter denke sie viel mehr über ihre Arbeiten nach, erzählt die 83-jährige, in Wien geborene Malerin, die fast ihr ganzes Leben lang in England lebt.

Ihr riesiges Konvolut, das in sechs Dekaden entstand, ist auch der Grund, weshalb sich Jaray gegen eine klassische Retrospektive entschieden hat, als die Wiener Secession sie einlud. Die Auswahl schlägt einen Bogen vom Anfang bis zum Jetzt – erstmals sind ihre Werke in dieser Fülle in der Stadt ihrer Herkunft zu sehen. Hoffentlich darf auch sie bald aus London anreisen.

Dass Return to Vienna ihre erste institutionelle Ausstellung in Österreich ist (die Exile Galerie zeigte 2019 ihre Werke), mag verwundern. Für Secession-Präsident Herwig Kempinger ist diese Ignoranz hierzulande "kaum zu glauben". Die Ausstellung soll das jetzt richtigstellen. Während Jaray in England geschätzt wird, sich ihre Werke in der Tate oder im British Museum befinden und öffentliche Orte in London und Birmingham von ihr gestaltet sind, ist sie in Österreich – nur das Mumok besitzt zwei Bilder – fast unbekannt. Dies ändert sich nun.

Reduziert und präzise geometrisch: "Seventeen Small Squares" (2018)
Foto: Secession / Tess Jaray

Präzise Muster

Abstrakte, präzise und geometrische Muster werden schon früh zur Bildsprache von Jaray. Wiederholung, Farbe, Leere definieren den Ort, den sie darin erschafft. Ihr Leben ist untrennbar mit der Entwicklung ihres einzigartigen Stils verbunden.

Nur acht Monate war Jaray alt, als sie 1938 mit ihren jüdischen Eltern nach England flüchten musste, wo sie in Worcestershire aufwuchs. Später studierte sie an der Slade School of Fine Art in London, wo sie als erste Frau in den Lehrkörper aufgenommen wurde. Durch ihre Eltern blieb sie mit der österreichischen Kultur in Verbindung, kam früh mit Klimt und Schiele in Berührung.

Eine wichtige Bezugsperson war ihre Großtante Lea Bondi-Jaray, die ihr die Kunstwelt näherbrachte. Vor der Flucht leitete diese die Galerie Würthle in Wien und war mit Oskar Kokoschka befreundet. Das Werk Wally von Egon Schiele wurde ihr abgenommen. Jahre später wurde es in New York beschlagnahmt, 2010 nach langen Prozess rechtmäßig erkauft und nach Wien zurückgebracht – heute hängt es im Leopold-Museum.

Über die deutschen und österreichischen Expressionisten lernte Jaray den amerikanischen abstrakten Expressionismus kennen, später waren es die Werke von Kasimir Malevich (Quadrat!), die sie beeinflussten. Durch die gerade Linie wirkten vor allem weibliche Künstlerinnen ernstzunehmender, erinnert sie sich. "Und ich wollte ernstgenommen werden."

Bildräume inspiriert von architektonischen Formen: "Sanctuary Green" (1964)
Foto: Secession / Tess Jaray

Formen wie Raffael

Bei ihrem ersten Besuch in Wien war sie 19 Jahre alt. Vor allem das Muster des gotischen Steildaches am Stephansdom beeindruckte sie nachhaltig. Die Architektur wurde zur anleitenden Inspirationsquelle. Insbesondere die Werke des italienischen Renaissancekünstlers Piero della Francesca. Später fügte sich die Formensprache islamischer Architektur hinzu, der Jaray auf Reisen in Syrien begegnete.

Steht man vor den Bildern in der Secession, sind diese formalen Einflüsse in Early Piazza,One Hundred Years [Purple] oder Citadel 2 [Light on Light] auszumachen – wenngleich die Deutlichkeit oft eine subtile ist. Mit den reduzierten, blass gefärbten und leeren Bildräumen kreiert die Künstlerin Orte, die die Betrachter wie eine Landschaft vereinnahmen. Man kippt quasi in sie hinein.

Für ihre jüngsten Arbeiten hat Jaray runde Platten gewählt, die sie als schwierige Formate beschreibt. Nur selten wurden sie in der Malerei erfolgreich umgesetzt. Raffael habe das als einer der wenigen geschafft, findet sie. Dass sie sich trotzdem heranwagt, zeugt von extremer Unbekümmertheit – jugendlich hin oder her. (Katharina Rustler, 19.2.2021)