Neureuther hat eine Stiftung mit dem Motto "Beweg dich schlau!" initiiert. Ziel ist, Kindern mit Bewegung eine Alternative zu Erfolgserlebnissen beim Handyspiel zu bieten.

Foto: Imago/Minkoff

Der Sohn einer Rennläufer-Dynastie ortet in Zeiten der Digitalisierung eine Verschiebung der Werte. Neureuther nimmt wegen des zunehmenden Bewegungsmangels bei Jugendlichen die Politik in die Pflicht. Er sieht Probleme im Breitensport und fordert einen nahbaren Spitzensport, in dem die Athleten im Mittelpunkt stehen sollen und nicht die "Geldbeutel der Funktionäre".

STANDARD: Ist der Skisport noch zu retten?

Neureuther: Ich würde am liebsten wie aus der Pistole geschossen mit Ja antworten, aber dann kommt das große Aber. Ich denke, ja, aber es muss sich grundsätzlich im Denken etwas ändern. Diese Frage war auch die Intention meines Buchs "Die Helden von morgen" und stand auch als Titel in der Schwebe, aber weil ich ein sehr positiver Mensch bin, wollte ich nicht gleich mit dem Hammer daherkommen. Den Skisport wird es immer geben, aber in welcher Form, das ist die große Frage.

STANDARD: In Ihrem Buch sieht man Sie auf einem Foto bei einem Kinderrennen mit der Startnummer 233. Die gute alte Zeit?

Neureuther: So ist es. Heutzutage sind bei Fis-Rennen vielleicht 70 am Start. Es ist eine Entwicklung, über die man nachdenken muss, in jedem Sport. Die Breite geht massiv verloren, weil sich der Breitensport zu sehr vom Profisport abgrenzt. Das ist die große Gefahr.

STANDARD: Kinder wenden sich verstärkt dem Smartphone und dem Tablet zu. Wie kann man gegensteuern?

Neureuther: Nicht nur die Digitalisierung ist ein großes Problem, sondern unser ganzes System, auch das Schulsystem, die frühe Professionalisierung. Es reicht eben nicht, sich zu überlegen, wie man es schafft, mehr Kinder in den Sport zu bringen. Entscheidend ist, dass sich Kinder wieder mehr bewegen. Man muss sehr vielseitig ansetzen.

STANDARD: Und wie?

Neureuther: Wenn sie Sport machen, sind sie schon mal nicht am Handy. Meine Kinder wachsen handyfrei auf. Und das wollen wir auch, solange es geht, durchziehen. Wir müssen den Kindern durch die Digitalisierung den Sport zugänglich machen. Vor Corona hatten fünf Prozent aller Jugendlichen eine Bildschirmzeit von acht Stunden am Tag, und jetzt sind es 25 Prozent. Innerhalb einer Minute hat man ein Erfolgserlebnis. Im Sport braucht man viel länger. Mit einem Spiel schaffst du diesen Endorphin-Ausstoß 200-mal am Tag. Daher habe ich das Programm "Beweg dich schlau!" ins Leben gerufen, um Kindern ein kurzfristiges Erfolgserlebnis und Spaß an der Bewegung zu vermitteln.

STANDARD: Kann das funktionieren?

Neureuther: Man muss ihnen Zeit und Platz geben, kreativ zu werden. Heutzutage ist das Programm ein Wahnsinn. Sie werden dazu erzogen, sieben Stunden am Stück am Stuhl zu sitzen. Auch im Homeschooling sitzen sie nur vor dem Computer. Die Gesundheit unserer Kinder muss eine wesentliche Aufgabe der Politik sein, sonst wird unser Gesundheitssystem gegen die Wand gefahren und endet in einer Katastrophe.

STANDARD: Ist es schwieriger geworden, Vorbilder im Sport zu finden?

Neureuther: Ja klar, weil es zu viel Angebot gibt. Die Kinder schauen irgendwelchen Influencern zu, wie sie sich Make-up auftragen. Ja, wo simma denn? Haben nichts gelernt, machen irgendwelche Videos und stellen sie in soziale Medien. Sollen sie Vorbilder für die Kinder sein? Das ist nicht die Wertevorstellung, die ich hatte, als ich aufgewachsen bin. Diese Tendenz ist dramatisch.

STANDARD: Wer war Ihr Vorbild?

Neureuther: Alberto Tomba war der geilste Typ für mich, er war ein Wahnsinn. Schon allein, wie er Ski gefahren ist, wie er sich präsentiert hat, das war halt Tomba la bomba. Er hat die Massen bewegt. Er hat mich extrem fasziniert. Aber nicht nur ein Tomba. Ich bin jeden Tag auf den Berg gegangen und habe versucht, die verschiedenen Stile nachzufahren, auch von Marc Girardelli, Lasse Kjus und so weiter. Das waren die Helden meiner Kindheit.

STANDARD: Ist die Distanz zwischen Fans und Skirennläufern auch so groß wie zum Beispiel im Spitzenfußball?

Neureuther: Nicht ganz so, aber noch viel zu groß. Du schwingst ab, und es stehen ich weiß nicht wie viele Zäune im Ziel. Zu Franz Klammers Zeiten konnten die Leute auf die Strecke laufen. Heute ist alles extrem abgegrenzt. Das darf nicht sein. Die Nähe, diese Dynamik, das ist das Einzigartige, das müssen die Leute spüren und hautnah erleben können. Aber das schafft man nicht, wenn die Leute 50 Meter weit weg stehen. Die Zuschauer auf der Tribüne sehen ja gar nichts mehr. Sie schauen auf den Bildschirm. Aber was bringt denn das? Da kann ich gleich zu Hause bleiben.

STANDARD: Bezweifeln Sie, dass Bilder die Leute emotional mitreißen?

Neureuther: Von der Emotionalität her definitiv. Wenn man die Einschaltquoten analysiert, dann ist in Deutschland Biathlon Nummer eins, dann kommt Skispringen und dann erst Ski alpin. Wieso ist Biathlon so erfolgreich? Da kann auch der mit Nummer 120 gewinnen. Die Spannung bleibt aufrecht. Aber im Skisport, Entschuldigung, die Kombi ist mit Nummer drei beendet. Eine Abfahrt ist auch relativ kurzlebig, wenn die Topfavoriten am Anfang kommen. Das ist das Problem am Skisport. Das Format ist nicht mehr fernsehgerecht. Die Klassiker müssen natürlich bestehen bleiben, aber den Rest muss man massiv überdenken.

STANDARD: Parallelrennen scheinen auch nicht der Weisheit letzter Schluss zu sein.

Neureuther: Welchen sportlichen Wert hat denn bitte ein Parallelbewerb? Null Komma null. Das ist reines Stangengebolze, ein Schwachsinn. Das interessiert mich so, wie wenn in China ein Radl umfällt. Die besten Skifahrer sollten bei schwierigsten Bedingungen und schwerster Kurssetzung die schwersten Hänge fahren. Das hat für mich nichts mit elementarem Skifahren zu tun. Dieses Format wertet auch die anderen Disziplinen ab, weil es so viele Chancen gibt, eine Medaille zu gewinnen. Parallelbewerbe können sie separiert in großen Städten machen, aber doch nicht bei einer Weltmeisterschaft.

STANDARD: Sie kritisieren in Ihrem Buch, dass es zu viele Bewerbe gibt und die Verbände vor allem darauf bedacht sind, Einnahmen zu lukrieren.

Neureuther: Es müssen doch in erster Linie der Sport und die Sportler im Vordergrund stehen, und nicht die eigene Kasse oder der Geldbeutel der Funktionäre. Und alle, die bei Verbänden arbeiten, haben verdammt nochmal ihren Job zu machen, dass das auch passiert und nicht, dass der internationale Skiverband finanziell gut dasteht.

STANDARD: Stichwort Verletzungen: Wäre es zielführend, wenn man die Aggressivität des Materials verringert, die Kurssetzung ändert und den Kalender verschlankt?

Neureuther: Ja, natürlich. Mich wundert nicht, warum sich so viele verletzen. Die Kurssetzungen sind für dieses Material zu schnell. Und das Programm, das viele fahren, ist massiv. Bis Ende April, Anfang Mai werden Skier getestet, und Mitte Juli stehen sie schon wieder am Gletscher und rumpeln das Eis runter. Sie haben zweieinhalb Monate Zeit, um ihren Körper auf Vordermann zu bringen. Das ist ja nichts. Es würde reichen, im September mit dem Skifahren zu beginnen. So könnte man auch die Gletscher im Sommer schonen. Es ist für mich nicht zeitgemäß, dass der Weltcupauftakt Ende Oktober steigt. Ende November reicht vollkommen.

STANDARD: Der Trend geht aber in die andere Richtung. Fällt kein natürlicher Schnee, so versucht man, mit weißen Kunstschneebändern die Leute zum Anschnallen zu animieren.

Neureuther: Der Skisport hat ein großes Problem, wenn es um Glaubwürdigkeit geht. Die Gletscher ziehen sich zurück, die Pisten werden irgendwie präpariert und Gletscherspalten zugeschoben. Der Nachhaltigkeitsfaktor ist jedoch entscheidend für den Skisport. Er muss Vorreiter sein, weil er von den Wintersportarten den größten ökologischen Fußabdruck hinterlässt. Für diese Aussage werden mich viele Leute von der Industrie nicht mögen, aber das ist mir wurscht. Es geht darum, den Sport aufzuwerten. Weniger ist mehr.

STANDARD: Wann waren Sie zuletzt Ski fahren?

Neureuther: Beim Weltcuprennen der Frauen in Garmisch. Da durfte ich die Kamerafahrt machen. Das war insgesamt mein dritter Skitag, weil sie alles dichtgemacht haben. Als ich das letzte Mal so wenig Ski fahren war, war ich ein Jahr alt. Also vor 35 Jahren. Es geht mir sehr ab und ist schon bitter. (Thomas Hirner, 19.2.2021)