Ein langsam sich aus dehnender Balken mit Windrädern, Palmenhainen, Onyx-Gazellen, bunten Korallenfischen und atemberaubenden Wadi-Steinformationen. Dazu eine rauchige, seriöse Stimme, die von Mensch, Natur und Revolution spricht. "It’s time. It’s time to draw the line. Neom."

Doch was steckt hinter der visuell anregenden Werbung, die seit einigen Wochen in sämtlichen Foren und TV-Kanälen – darunter auch im deutschen Privatfernsehen – mit scheinbar unpackbarem Werbeetat in den besten Hauptabendstunden ausgestrahlt wird? Die Orient-Expedition eines Reiseveranstalters? Ein neues Online-Strategiespiel à la Sim City oder Forge of Empires, bei dem es gilt, eine futuristische Stadt zu errichten? Oder vielleicht ein Science-Fiction-Film wie dereinst Michael Bays Die Insel (2005) mit Scarlett Johansson und Ewan McGregor in den Hauptrollen?

Baustelle neue Zukunft? Im Jänner hat Saudi-Arabien im Nordwesten des Landes die Bagger anrollen lassen. Geplant ist eine Megabandstadt für eine Million Einwohner.
Foto: Gary Cummins

Von Zukunft ist in der Tat die Rede, und zwar von jener, wie sie sich das Königreich Saudi-Arabien ausmalt. Im Nordwesten des Landes, Provinz Tabuk, will Seine Hoheit Mohammed bin Salman, Kronprinz von Saudi-Arabien und praktischerweise zugleich Vorstandspräsident der mit dem Bau befassten Neom Company, eine 170 Kilometer lange Idealstadt errichten, die sich vom Golf von Akaba über das 2500 Meter hohe Hedschas -Gebirge bis zu den im Binnenland vorzufindenden Wadis erstreckt. Der Name des Megaprojekts: "Neom The Line". Im Jänner war Baubeginn.

"Wir wollen das Konzept einer konventionellen Stadt in das einer futuristischen Stadtvision verwandeln", sagt bin Salman bei einem seiner vielen Konferenzauftritte. "Neom The Line besteht zu 95 Prozent aus Natur, eine Stadt ohne Autos, ohne Straßen, ohne CO2 -Emissionen, eine Stadt für eine Million Einwohner, die hier mit Hochgeschwindigkeitszügen, künstlicher Intelligenz und nachhaltiger Energiegewinnung aus Windkraft, Sonnenenergie und Wasserstoff-Kraftwerken ein Zuhause finden sollen."

Wie eine Perlenkette

Neom The Line – der Name ist ein Kompositum aus dem griechischen "neu" und dem Initial von "mustaqbal" (Zukunft) – ist ein einziger langer Strich, der in einem hochmodernen Hafen-Hub am Roten Meer seinen Anfang nimmt, ungeachtet von Berg und Tal schnurstracks durch die saudi-arabische Landschaft durchgaloppiert, um schließlich in einem neu zu errichtenden internationalen Flughafen abrupt zu enden. Angestrebt wird, so heißt es in den offiziellen Presseaussendungen, eine Mischung aus Dubai, Singapur und Silicon Valley.

Auf einer Breite von rund zwei Kilometern sollen an den wichtigsten neuralgischen Punkten Subzentren mit Wohnen, Büros, Schulen, Kindergärten, Geschäften, Apotheken und Freizeiteinrichtungen entstehen, die nach dem Konzept einer Fünf-Minuten-Stadt zu Fuß erreicht werden können. Die gesamte Infrastruktur wie Müllablagerung, Energie und Lieferlogistik liegt unterirdisch. Verbunden werden die wie Perlen an einer Perlenkette aufgefädelten Subzentren über eine High-Speed-Zugverbindung. Angestrebte Fahrzeit von Ost nach West: 20 Minuten. Das entspricht zwar einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 510 km/h, aber das ist schon okay.

So weit die wunderbaren Eckpunkte. Die Zukunft darf kommen. Was die Entwickler allerdings verschweigen: Für den Bau der neuen Linienstadt müssen laut The Guardian rund 20.000 Beduinen, die hier leben, vertrieben werden. Abdul Rahim al-Huwaiti, Mitglied des Howaitat-Stammes, machte in einem Video darauf aufmerksam, dass die saudischen Sicherheitskräfte ihn und seine Familie mit Gewalt verjagen wollen, und wurde kurz darauf ermordet aufgefunden. Eine Kugel im Kopf. Mit dem Attentat im April letzten Jahres legten Architekt Norman Foster und Daniel L. Doctoroff, CEO von Google Sidewalk Labs, ihre Funktion im wissenschaftlichen Neom-Beirat nieder.

Für den Bau der neuen Linienstadt müssen laut "The Guardian" rund 20.000 Beduinen, die hier leben, vertrieben werden.
Foto: Aaron Jenkins

Doch die künstliche Traumstadt, mit der die konservative und menschenrechtlich rückständige Monarchie (Platz 159 von 167 im globalen Demokratie-Ranking des Economist, Platz 170 von 180 im Presse freiheit-Ranking von Reporter ohne Grenzen) ihr internationales Image aufpolieren und sich für die Zeit nach der Ölschwemme wappnen will, wirft nicht nur einen politischen Schlagschatten auf das Gesamtprojekt. Auch architektonisch, stadtplanerisch und in Hinsicht auf Nachhaltigkeit tauchen viele kritische Fragen auf.

"Die Idee der Bandstadt ist nicht neu, sondern wurde in der Architekturtheorie schon oft aufgegriffen", sagt Vittorio Magnago Lampugnani, Professor für Städtebaugeschichte an der ETH Zürich sowie Autor der fast fünf Kilo schweren Urbanismusbibel "Die Stadt im 20. Jahrhundert". "Aufgrund der langen Distanzen und der damit verbundenen Abhängigkeit von schnellem Verkehr jedoch hatten das Modell und die wenigen realisierten Beispiele wie etwa in Madrid keinerlei Auswirkung auf den heutigen Städtebau. Träume und Visionen sind wichtig, keine Frage. Aber die reale Verräumlichung der Bandstadt-Idee ist geschichtlich betrachtet nutzlos."

"Biopolitische Sehnsucht"

Im konkreten Fall, meint Lampugnani, sei die Situation sogar um einiges absurder. "Das Projekt Neom The Line liegt mitten in der Wüste und verbindet nicht einmal zwei bestehende Punkte A und B, sondern endet nach 170 Kilometern im Nichts. Ich erkenne keine Legitimation für diese Stadt, sondern sehe nur das Kopieren eines historisch erfolglosen Modells. Das ist eine Sackgasse."

Auch Charlotte Malterre-Barthes, Assistenzprofessorin für Stadtplanung an der Harvard Graduate School of Design in Boston, die sich schwerpunktmäßig mit Siedlungsstrukturen in Wüstengebieten beschäftigt, äußert sich im Gespräch mit dem STANDARD überaus skeptisch: "Nachhaltigkeit wird bei diesem Projekt großgeschrieben, aber wie nachhaltig ist es, die Wüste mit einer U-Bahn zu untertunneln, Millionen Tonnen Beton durch die Natur zu transportieren und zigtausende Bauarbeiter auszubeuten?"

Die Linearstadt Neom, für die Saudi-Arabien in der ersten Tranche 500 Milliarden US-Dollar (412 Milliarden Euro) in die Hand nehmen will, ist für die Stadtforscherin eine "biopolitische Sehnsucht", um – wie so oft bei autokratischen Top-down-Fantasien – über eigentliche Missstände und Probleme eines Systems hinwegzutäuschen. "Man könnte vermuten, dass sich hinter dem Projekt in erster Linie nationale und internationale wirtschaftliche Interessen verbergen."

Nach Auskunft von Florian Lennert, Head of Mobility bei Neom, die ihr Headquarter vor wenigen Wochen von der Hauptstadt Riad in die Region Tabuk verlegte, sei man bereits mit namhaften Verkehrstechnologie-Unternehmen wie etwa Siemens, Alstom und Hyperloop im Gespräch. Auch andere Stakeholder wie beispielsweise der 5G-Anbieter stc oder der US-amerikanische Anlagenbauer Bechtel sind mit an Bord. Um weitere Investoren und Entwickler zu gewinnen, plant Kronprinz Mohammed bin Salman, die Provinz Tabuk – ähnlich wie etwa bei Hongkong, Shenzhen und Macau – zu einer autonomen Region mit eigener Verfassung und eigenen Steuer- und Wirtschaftsgesetzen zu erklären. Ob das reicht?

Neom ist das vielbeworbene Versprechen, eine neue Zukunft zu bauen. Aktuell deutet vieles darauf hin, alte, missglückte Vergangenheiten zu kopieren. Fertigstellung des ersten Bauabschnitts: 2025. (Wojciech Czaja, 21.02.2021)