Subtile Tiefenschärfe: Volha Hapeyeva.

Foto: Helmut Lunghammer

Belarus hat mit seinen 9,5 Millionen Einwohnern in den vergangenen Jahren eine erstaunliche Kulturlandschaft hervorgebracht. Seitdem die Proteste gegen das Regime des Autokraten Alexander Lukaschenko laufen, drängen die unabhängigen Stimmen aus Kunst, Musik oder Literatur aus den Nischen, die sie trotz der schwierigen Bedingungen besetzen konnten, an die Oberfläche, suchen ihren Platz in einer Gesellschaft, die ihr politisches Schicksal selbst in die Hand nehmen will.

In den vergangenen Wochen ist das Regime gezielt gegen Schriftsteller, Verlagsleute und Künstler vorgegangen. Warum? Weil sie mit ihrer Kraft der künstlerischen und emotionalen Inszenierung und Verarbeitung die Macht haben, weitere Löcher in den Kontrollraum des Machtapparates zu reißen. Es wird Zeit, dass auch wir in Westeuropa uns mehr für dieses sträflich vernachlässigte Land und seine komplexe Geschichte interessieren – und seine Stimmen wahrnehmen.

Stimmenvielfalt

Dass mittlerweile regelmäßig Romane den Weg aus Belarus in die deutsche Übersetzung finden, ist kleinen, agilen Verlagen und Übersetzern wie Thomas Weiler zu verdanken, die trotz aller marktwirtschaftlicher Regeln noch an das Abenteuer und die Neugier glauben.

Viktor Martinowitsch, "Revolution". Aus dem Russischen von Thomas Weiler. 24,– Euro/ 400 Seiten. Voland & Quist, Berlin 2021

Aktuell sind zwei Bücher aus Belarus erschienen, die in ihrer fast schon diametralen Andersartigkeit für die Stimmenvielfalt der zeitgenössischen belarussischen Literatur stehen. Revolution von Viktor Martinowitsch ist ein relativ sperriger Roman von fast 400 Seiten, den man sich mit der Lust an der literarischen und sprachlichen Entdeckung erschließen muss.

Man muss ihn quasi aufschrauben, weil Martinowitsch darin ein wildes Grundrauschen aus Zitaten, Reflexionen, Namen und Beschreibungen kreiert, mit dem er der Frage nachgeht, was Macht eigentlich ausmacht, wie Macht in zwischenmenschlichen Beziehungen funktioniert.

Dafür schickt er seinen Ich-Erzähler, den Universitätsgelehrten Michail German, im Moskau der Gegenwart in eine rauschhafte Geschichte. Er landet in den Fängen einer obskuren Organisation, die das komplexe Netz der zwischenmenschlichen Beziehungen nicht nur beherrscht, sondern auch selbst bestimmt.

Diese Organisation wird von einem alten Herrn geführt, den alle nur batja, also Väterchen nennen. German erledigt Auftrag um Auftrag und steigt so nicht nur in der Organisation auf, sondern auch in seinem eigentlichen Leben. Er wird mächtiger. An einer Stelle erklärt er batja: "Ich baue lieber ein System auf, das ganz auf Intimität basiert, ohne Rhetorik und Täuschung. Du willst die Macht? Nimm sie dir! Und reiß dann schnell allen die Köpfe ab, die etwas dagegen haben."

Reflexion und Leichtfüßigkeit

Auch wenn der Roman manchmal mit seinen hyperintellektualisierten Reflexionszurschaustellungen enervierend wirkt, ist Martinowitsch ein faszinierender, erkenntniseruptiver Roman gelungen, den wohl nur jemand schreiben kann, der wie Martinowitsch in einem autoritären politischen System lebt.

Volha Hapeyeva, "Camel Travel". Aus dem Belarussischen von Thomas Weiler. 18,– Euro / 128 Seiten. Droschl, Graz 2021

Camel Travel von Volha Hapeyeva kommt dagegen leichtfüßig und ironisch daher, aber nichtsdestotrotz ist die Sammlung von Anekdoten über das Aufwachsen in der ausgehenden Sowjetunion von einer subtilen Tiefenschärfe und überlegten Konstruktion.

Es ist die erste längere Prosaarbeit der Dichterin, die neben Valzhyna Mort oder Julija Cimafeeva zu den wichtigsten poetischen Stimmen ihres Landes zählt. Hapeyeva ist eine grenzenaufweichende Wortzauberin, was man auch diesem Buch anmerkt, in dem Wort, Ton, Rhythmus und die genauen Beobachtungen eine abhängig machende Sogwirkung entfachen.

Freiheit des anderen Blicks

Hapeyeva, die 1983 geboren wurde, beschreibt, wie das Aufwachsen eines aufgeweckten und eigenwilligen Kindes in einem autoritären Staat nicht nur zu bizarren und komischen Momenten führen kann, sondern wie sich eine junge Frau von diesem politischen Drumherum durch die Freiheit, einen anderen Blick einnehmen zu wollen, letztlich emanzipiert.

Symbolisiert wird dies gleich zu Beginn durch die titelgebende Kindheitserinnerung an einen Ritt auf einem Kamel, mit der ein exotischer Blick auf die Welt versinnbildlicht wird. Zu dieser Form der, man kann sagen, magischen Emanzipation gehört auch, dass Hapeyeva mit Verve und Chuzpe ein neues, skurriles Bild des Lebens in der Sowjetunion entwickelt – in der düstere Ereignisse, wenn überhaupt, nur durchschimmern in dieser kindlich-aberwitzigen Erzählung, die einem ausgiebigen reinwaschenden Duschgang gleicht.

"Seither hege ich eine Abneigung gegen Wannenbäder", schreibt Hapeyeva, "duschen ist viel angenehmer, da gibt es Bewegung und Fortschritt und nicht nur Herumgesitze und Gewarte." Man darf sich wünschen, dass noch mehr belarussische Bücher wie diese den Weg zu uns finden. Damit auch der bereits erwähnte Thomas Weiler, der es so vortrefflich versteht, das Belarussische für das Deutsche aufzuschlüsseln, nicht untätig herumsitzen und warten muss. (Ingo Petz, 21.2.2021)