Claudia Durastanti, "Die Fremde". Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. 24,70 Euro / 302 Seiten. Zsolnay, Wien 2021

Cover: Zsolnay-Verlag

Manchmal stößt man in Büchern auf einen Satz, der den Inhalt wie in einem Brennglas einfängt. Zum Beispiel dieser: "Die Geschichte einer Familie ähnelt eher einer topografischen Landkarte, und eine Biografie ist die Summe aller geologischen Zeitalter, durch die du gegangen bist."

Der Satz steht in Die Fremde, dem neuen Buch der italienischen Autorin und Übersetzerin Claudia Durastanti. La straniera im Original, was auch Ausländerin heißt, und "strano" bedeutet zudem merkwürdig, seltsam. Als all das sieht sich Durastanti, in der Ich-Form erzählt sie von einer Existenz in wechselnden Topografien, physischen und geistigen, in die sie hineinfinden muss, ohne heimisch zu werden, und so präzise wie spannend rollt sie die Ursachen dafür auf.

Das Buch beginnt damit, wie sich ihre Eltern in Rom kennenlernten – sie hielt ihn davon ab, in den Tiber zu springen, das verband sie sofort und etwas anderes noch dazu: Sie waren beide gehörlos. Als die Erzählerin 1984 geboren wurde, war ihre Mutter bereits geschieden und zu Verwandten nach Brooklyn gezogen.

Was es bedeutet, in einer verwirrenden italoamerikanischen Umgebung aufzuwachsen, aufgezogen von einer Frau, die in ihrer eigenen Welt lebte, darüber schreibt Durastanti manchmal amüsiert, oft mit analytischer Schärfe. Sie war sechs, als die Mutter mit ihr und ihrem Bruder in die archaische, anarchische Basilikata in Süditalien zog.

Hier wurde sie zur "umgekehrten Immigrantin", zu einer Außenseiterin, die zunächst weder mit der Mutter zurechtkam noch mit dem Vater, den sie manchmal sah und der, ebenfalls in einer Fantasiewelt lebend, sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlug. In der Schule wurde sie ausgelacht, weil sie die Wörter durcheinanderbrachte. Trost boten ihr ähnlich am Rand Stehende. Literatur, schreibt sie, habe ihr schließlich eine andere Welt eröffnet, Bücher hätten sie gerettet.

Familiengeologie

Die Fremde, der vierte Roman von Durastanti, ist nicht so sehr lineare Autobiografie als vielmehr eine Meditation über die Schichten ihres Coming of Age, die sie abträgt, eben mehr Geologie als Chronologie. Es ist ein gedankliches Labyrinth der ehrgeizigen Ziele, die sie sich setzt, auch erreicht und damit zu den Privilegierten zählen wird, und der Ängste, die sie trotzdem quälen.

Typisch dafür ist eine weitere Emigration, nach London, "aus falschen Gründen (...) mit der romantischen Vorstellung vom Punk und der täglichen urbanen Apokalypse". Zwischendurch ufert ihr Gedankenstrom zu eigenen Essays aus, klarsichtig schreibt sie über den Einfluss von Filmen und Musik auf ihre Generation; über Drogen; über Liebesgeschichten, die sich selbst erfüllende Prophezeiungen sind, "und wenn keine Vorzeichen da sind, muss man sie erfinden, damit alles bedeutend wird"; über Liebe, die unversehrt bleibt, wenn alles bricht.

Die Mutter verstehen

Vor allem reflektiert sie darüber, was "Behinderung" bedeutet. Sie versucht, die taube Mutter – die vielleicht die eigentlich Fremde im Buch ist – in jedem Sinn des Wortes zu verstehen und damit sich ihr anzunähern: "Als meine Mutter zum ersten Mal eine ironische Bemerkung verstand, war sie fünfundfünfzig, mein Bruder und ich haben sie erstaunt angesehen. Es war eine neue Erfahrung, ein Gefühl großer Dankbarkeit."

Die Übersetzerin navigierte souverän durch italoamerikanisches Sprachgewirr und Dialektformulierungen. Sie suchte das Original, wo Durastanti übersetzt hatte, etwa die Zitate angelsächsischer Autoren oder Zeilen aus einem Song von R.E.M. Sie erkannte auch den Filmtitel Lethal Attraction in der sehr anderen italienischen Kapitelüberschrift und verwendete ihn sinnstiftend im deutschen Text. (Eine "famiglia novecentesca" allerdings ist aus dem 20., nicht dem 19. Jahrhundert, und die italienische Linke, die "stava sparendo", hat nicht geschossen, sondern war am Verschwinden. Kann passieren.)

"Was nicht auf unseren Grabsteinen stehen wird", schreibt Durastanti, "ist unsere Entfernung von daheim." Nicht dazugehören – in dem Wort steckt, verallgemeinert, das Schicksal ihrer Familie. Dass Menschen auf verschiedene Weisen immer häufiger marginal bleiben und Nomaden werden, das macht das sehr lesenswerte Buch auch noch zu einem aktuellen Autodafé. (Michael Freund, 20.2.2021)