In den Wartesaal des Lebens verbannt, in dem es eigenartig nach verdampften Ambitionen, nach Zukunftsangst riecht: wir Kinder vom Bahnhof Corona!

Foto: Matthias Cremer

Die Pandemie verleitet selbst auftrumpfende Naturen, sonst gewohnt, vor Tatendrang schier zu bersten, zum Zaudern und Innehalten. Nicht die Bewältigung von Alltagsroutinen schüchtert ein: Ein fühlbarer Verlust von Antriebsenergie macht sich zunehmend störend bemerkbar. Während der Gesellschaftsmotor stotternd weiterläuft, fühlen sich Massen von Projektemachern, von Luftkutschern und Wolkenmalern in ein schäbiges Wartezimmer gedrängt. In ihm riecht es beißend: nach Alltagsrückständen, nach enttäuschten Gefühlen, nach Zukunftsangst. Vier Typen, die in der Corona19-Krise das Ausharren in der Wartestellung neu erlernt haben.

Der Zauderer: Ihm wäre, aufgrund seiner nervös reizbaren Natur, mit der behördlichen Veröffentlichung des Corona-Endes am meisten gedient. Die Pandemie wäre, zur festgesetzten Stunde, restlos vom Antlitz der Erde getilgt. Die allmähliche Verödung des gesellschaftlichen Lebens veranlasst ihn zum Rückzug ins selbstgewählte Schneckenhaus. Seine Wirkungsstätte, durchzuckt von Geistesblitzen, vollgeräumt mit Kunsthandwerk, besitzt eine schier grenzenlose Ausdehnung. Diese reicht dennoch nur nach innen.

Solche Zauderer fühlen sich der Macht ihrer Tathemmungsimpulse schutzlos preisgegeben. Sie gleichen dem schockierend inaktiven Dänenprinzen Hamlet, der jedes Für und Wider auf das Genaueste erwägt, um die sühnende Tat doch lieber bleiben zu lassen. Covid19 ist ihm, der vornehmlich ästhetisch denkt, um ethisch besser argumentieren zu können, bloßer Ausdruck für die "gebrechliche Einrichtung der Welt" (Kleist). Ihm reicht ein plötzlicher Regenguss aus, um von diesem auf ein mögliches Erkalten des Zentralgestirns zu schließen.

Der Wartende: Jede mehr sitzende oder im Ruhemodus ausgeführte Tätigkeit peinigt ihn bereits bis aufs Blut. Der Philosoph und Zeitungsschreiber Siegfried Kracauer erkannte ihm bereits vor 99 Jahren besondere Adelsprädikate zu: Ihn, den "Wartenden", hat der Niedersturz aus allen Sphären religiöser Gewissheit schon vor einigen Jahrhunderten in die Unbehaustheit gedrängt. Häufig genug hängt über dem Ausharrenden der "Epoche Corona" der Fluch der Vereinzelung. Die Androhung des Virus hat jede Vorstellung, wie mit anderen eine Gemeinschaft zu bilden wäre, für ihn vereitelt. Das Ich bildet ohne die Vermittlungsfunktion dritter die Brücke zum Du: etwa kraft widerruflicher Verträge mit dem Mobilfunkanbieter.

Der Einzelmensch als "abgesplittertes Partikelchen" wartet darauf, dass man sich auf eine Nutzung seiner Produktivkräfte neu mit ihm verständigt. Berühmt ist das Beispiel Bismarcks, des "Eisernen Kanzlers" der Deutschen. In den wohlverdienten Ruhestand versetzt, stand er für eine neuerliche Inbesitznahme der Staatsgeschäfte rund um die Uhr parat. Kaiser Wilhelm II. leistete auf ihn jedoch Verzicht.

Der Zielgehemmte: Für ihn stellt der Weg das Ziel dar. Um dessentwillen nimmt er Entbehrungen, wie das exzessive Abstandhalten oder die biblische, am Vorbild von Pontius Pilatus orientierte Handhygiene, bereitwillig in Kauf nimmt. Mit dem Hinschwinden des öffentlichen Lebens bemächtigt sich seiner aber auch ein Gefühl der Abgeschlagenheit. Die Wirklichkeit verliert vor seinen Augen an Kontur, droht zu verblassen.

Seine Enttäuschung verbirgt der Zielgehemmte hinter der Maske prinzipieller Skepsis. Sein Unvermögen, das lähmende Nicht-Handeln-Können, wird in den triumphalen Ausdruck souveräner Selbstbestimmung übersetzt. Wohl fühlt sich der Zielgehemmte erst, wenn er sich versichert hat, gar nicht handeln zu wollen. Hinter den Maßgaben der Pandemiebeauftragten wittert er hingegen ein Komplott. Irgendwo, hinter verschlossenen Netzportalen, kämpft Gott mit den Dämonen der Obrigkeit. Diese streben danach, ihn, den durch Corona Gegängelten, endgültig zu unterjochen.

Der Unentbehrliche: Er wähnt sich nicht nur gegenüber Pandemien, sondern gegenüber allen Heimsuchungen auf dem längstmöglichen Ast sitzend. In ihm findet sich, eigener Einschätzung nach, niemand Geringerer als der Weltgeist verkörpert. Der Unentbehrliche besitzt Zugriff auf unbegrenzte Energiereserven. Lockdowns sitzt er aus, und sei es dadurch, dass er Quitten zu Mus verkocht.

Als man Napoleon I. anno 1814 auf die liebliche Mittelmeerinsel Elba verbannte, vertrieb er sich die Herrschaftszeit, rastloser denn je, mit dem Errichten von Baumspalieren. Jeder Lockdown schränkt nicht den eigenen Wirkungskreis ein. Er stellt lediglich die Befähigung zum Ersatzhandeln auf die Probe. Auch Katzen, die Mäuse während kontemplativer Phasen keines Blickes würdigen, lecken derweil sorgfältig ihr Fell. (Ronald Pohl, 20.2.2021)