Nach allen Seiten hin zerfällt und radikalisiert sich der öffentliche Diskurs. Die Lage ist verwirrend. So passiert es einem schon mal, dass man „Corona-Demonstranten“, die für ihre „Grundrechte“ eintreten, gegen den pauschalen Vorwurf eines „Volksverpetzers“¹ verteidigt, der sie allesamt als „Rechtsextremisten“ und „Verschwörungstheoretiker“ abstempelt — nur damit man im nächsten Moment selbst von „Corona-Leugnern“ als „devoter Merkel-Freund“ niedergemacht wird, weil man ihren Behauptungen nicht zustimmen will, dass das Virus bloß eine von der deutschen Kanzlerin & Co erfundene Fiktion sei. Persönliche Drohungen inklusive.

So ist es mir tatsächlich mehr oder weniger auf Facebook ergangen. Und ja, diese Auseinandersetzungen laufen so aggressiv, kompliziert und undurchschaubar ab, wie sich das hier liest.  

Ein nicht weniger chaotisches Bild der hitzigen Corona-Debatten zeichnet Rudolf Stumberger auf „Telepolis“: „Es geht momentan ziemlich rund in der Arena: Die Antifa sieht bei Skeptikern hinsichtlich der Corona-Maßnahmen vor allem Neonazis und Antisemiten am Werk, die Rechte (wie etwa die Identitären) schieben die Diskursordnung nach rechts, die Linke ist staatstreu geworden, die Orthodoxie respektive die Leitmedien stellen ‚Faktenchecker‘ als Gralshüter der Wahrheit auf, wobei diese gerne vergessen, die Prinzipien, nach denen die ‚Fakten‘ erhoben werden, zu ‚checken‘. Gräben allenthalben.“

Wo sich positionieren?

Wie es für einen Menschen, der seine geistige Integrität bewahren möchte, danebengehen kann, wenn er versucht, sich in einer solchen historischen Situation auf eine bestimmte Seite zu schlagen, zeigt sich am Beispiel des Schauspielers Hubsi Kramar. Mitte Jänner war geplant gewesen, dass er auf einer „Querdenker“-Demo in Wien auftritt, um das Krisenmanagement der Bundesregierung zu kritisieren. Sein Anliegen wäre es gewesen, vor den Teilnehmern der Kundgebung davon zu reden, wie die Politik die Menschen im Stich gelassen hat. Anstatt seine Rede halten zu können, musste er die Flucht vor dem „lauten Gegröle“ ergreifen: „Niemand hat zugehört, wenn man etwas argumentiert hat. Es war zutiefst faschistoid und armselig.“

Ist aber nun die Alternative tauglich, stattdessen doch wieder reuig zurück in die Arme des Mainstreams zu flüchten, in die sogenannte anständige Mitte? Zeigt diese denn nicht ebenso mittlerweile ihre faschistoiden Züge? Und trägt der Mainstream nicht an der allgemeinen Volksverdummung eine erhebliche Mitschuld? Wird nicht auch von ihm längst ein Denken gepflegt, das ohne viel Argumentation auskommt, sondern vor allem mit Kampfbegriffen?

Das neue autoritäre Denken

Ein Zug zu einem neuen autoritären Denken macht sich immer mehr breit, und das gerade auch in der gesellschaftlichen Mitte. Der Ruf nach der starken Hand, die durchgreift, kommt schon lange nicht mehr nur aus dem rechtspopulistischen Eck. Die Internet-Medien sollen Nachrichten und Videos löschen, die „Falschinformationen“ und „Unsinn“ verbreiten, bekommt man immer öfter zu hören. Teilweise ist das auch schon geschehen. Wie sehr das einem demokratischen Diskurs widerspricht, davon hat man offenkundig nur ein geringes Bewusstsein. Vielmehr scheint man überzeugt davon zu sein, dass man selbst ganz genau weiß, was wahr und was falsch ist, und dass man selbstverständlich das Recht hat, solche Maßnahmen zu setzen.

Auch was die Impfung betrifft, lässt der eine oder andere recht bedenkenlos sein Begehren weniger nach unvoreingenommener und umfassender Berichterstattung als nach Macht heraushängen. „Ich wünschte, die Krankenhäuser und Heime könnten sie [die Pflegekräfte] zum Impfen zwingen“, schreibt etwa der Kolumnist Alexander Neubacher im „Spiegel“. Und macht ungeniert klar, dass er jeden, der daraufhin an seinen Vorbehalten festhält, mit Kampfvokabular zu übersäen bereit ist: „Lehnen eine Ärztin oder ein Pfleger die Corona-Impfung dann immer noch ab und berufen sich auf angebliche Persönlichkeitsrechte, sind sie keine Freiheitskämpfer, sondern skrupellose Zocker […]“.

Abbau von Grundrechten

Angebliche Persönlichkeitsrechte. Diese Formulierung muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Und so etwas steht unwidersprochen im größten Nachrichtenmagazin Deutschlands. Das ist nur vor dem Hintergrund eines bereits weitgehend erodierten Diskurses zu verstehen.

Mittlerweile hat man sich daran gewöhnt, dass die Grundrechte kassiert sind. Heribert Prantl ist einer der wenigen etablierten Journalisten im deutschsprachigen Raum, der das konsequent kritisiert. In einem Interview mit der „Berliner Zeitung“ listet er auf: Die schleichende Aushöhlung des Parlamentarismus, die massiven Einschränkungen von Bewegungs- und Gewerbefreiheit, die für viele Leute existenzgefährdend sind, und der Verlust des Grundrechts von Alten, Kranken und Sterbenden auf Kontakt zur Außenwelt, zu ihren nächsten Angehörigen, Freunden und Verwandten.

„Ich stelle mit Befremden fest, dass jetzt viele mit sehnsüchtigen Augen nach Fernost blicken, wo die Pandemie mit Big-Brother-Methoden bekämpft wird“, fährt Prantl fort. An anderer Stelle sagt er: „Aktuell ist die Politik dominiert von Naturwissenschaftlern und Virologen. Das geht nicht. Die Regierung muss Verfassungsrechtler, Pädagogen, Soziologen, Ökonomen und Kinderärzte anhören.“

Die Diskussionen nehmen mittlerweile absurde Züge an.
Foto: REUTERS/BERNADETT SZABO

Faktenfetischismus

Aber bei den Auseinandersetzungen ist ein vollkommen falsches Bild von dem leitend, was Politik überhaupt ist oder sein sollte. Politik wird inszeniert als Technokratie, als ein Vollzug von „Fakten“, also dessen, was naturwissenschaftliche Experten einem sagen, das man tun soll. Und leider lassen sich einige Wissenschafter von den Lockungen der Macht verführen und tun da mit. Bekanntgeworden ist der Fall einer Virologin, die vorgeschlagen hat, man solle gleich ganz Tirol abriegeln. Dafür wurde sie zwar angefeindet, bekam aber auch viel Unterstützung.

Es kann nicht sein, dass medizinische Fachleute auf derartige Maßnahmen drängen, deren juristische, soziale und politische Auswirkungen weit außerhalb ihres Horizonts liegen, und dass man ihnen dabei vielleicht sogar noch Folge leistet. Vorbereitet wurde das freilich bereits in den letzten Jahrzehnten durch den Verfall des Politischen zum „Post-Politischen“. Die europäische Politik versteht sich schon lange nur mehr als Vollzug von sogenannten „Sachzwängen“.

Mit eben demselben Stumpfsinn, den sie sich über die Jahre antrainiert hat, versucht die Politik diese Strategie nun auch in der Coronakrise zu verfolgen — und wird dabei im Kreis herum gejagt.² Denn nicht nur dass man Politik nicht auf das reduzieren kann, was einem medizinische Berater zuflüstern — die Naturwissenschafter haben oft auch gar nicht jene eindeutigen „Fakten“, die man von ihnen erwartet. Hier herrscht eine naive Vorstellung von Wissenschaft als eine Art Wahrsagekugel, in die man nur zu schauen brauche, und dann wisse man, was man zu tun habe.³

Naive Wissenschaftsgläubigkeit

Dabei reicht es, die Debatte nur etwas aufmerksamer über die Monate zu verfolgen, um zu sehen, dass die Wissenschaft bisweilen oft ganz konträre Dinge gesagt hat und selbst gar nicht immer so genau Bescheid weiß. Da gibt es eine Studie, die das bedeuten könnte, dort eine Studie, die möglicherweise ganz genau das Gegenteil belegt. Mal hat es geheißen, über Türklinken und U-Bahnhaltegriffe könne man sich anstecken, dann wieder nein, das geschehe nicht. Mal hat die WHO von Masken abgeraten, dann wieder setzten sich doch diejenigen durch, die sie für sinnvoll hielten. Zuerst sind Kinder infektiös, dann sind sie nicht infektiös, dann sind sie wiederum infektiös. Am Beginn des vergangenen Sommers ging die aufsehenerregende Meldung durch die Medien, dass Impfungen wahrscheinlich nicht viel helfen würden, weil die Antikörper nicht dauerhaft erhalten blieben. Später hat man davon nie mehr etwas gehört. Und hat man je zu einer einheitlichen Meinung über den "schwedischen Sonderweg“ gefunden?

Diese Verwirrung reicht bis in die jüngste Zeit. In einem Artikel im Nachrichtenmagazin „Focus“, erklärt der Virologe Detlev Krüger, immerhin der Vorgänger Christian Drostens an der Berliner Charité, die Mutationen seien nicht tödlicher als das ursprüngliche Virus, man solle „Gelassenheit“ bewahren. Gleichzeitig sind Meldungen in Umlauf, in denen Forscher eindringlich vor den neuen, viel tödlicheren Varianten warnen. In der „Berliner Zeitung“ legt ein Virologe dar, dass das Virus „am Rückzug“ sei, während fast zeitgleich ein Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ erscheint, der, natürlich ebenfalls unter Berufung auf namhafte Wissenschafter, betont: Das Virus wird uns noch sehr lange bleiben.

Wie soll sich da jemand auskennen? Was für eine Leitlinie angesichts dessen Wissenschaft abgeben kann, bleibt fraglich.

Gespaltene Linke

Die vielen, teils unüberbrückbaren Gräben, die die Coronakrise in einer postmodern ausdifferenzierten Gesellschaft zwischen den verschiedenen diskursiven Milieus aufgerissen hat, spiegeln sich noch einmal auf sehr spezielle Weise in der linken Szene wieder. (Anmerkung: Wenn ich hier „links“ sage, meine ich natürlich wirklich „links“ und nicht bloß „linksliberal“.) Virulent wird hier vor allem die unterschiedliche Auslegung des Verhältnisses zum Staat. Während die einen die Maßnahmen sowie die damit verbundenen Bürger-Tugenden von Disziplin und Gehorsam im Zeichen von gesellschaftlicher Solidarität sehen, pflegen andere ein eher rebellisches und anti-autoritäres Verhältnis zur Obrigkeit. Einen plastischen Einblick in die teils sehr verstiegen anmutenden Kontroversen fand man in einem Beitrag im Online-Medium „Telepolis“.

Tatsächlich findet sich in der linken Szene eine weite Bandbreite, von Kreisen, die von einem alle bisherigen Maßnahmen in den Schatten stellenden Total-Lockdown (Stichwort „Zero Covid“) träumen, um das Virus endgültig auszuradieren, bis zu Gruppierungen, denen Regeln und Vorschriften aller Art schon von vornherein suspekt sind — und deren Statements manchmal etwas unerwachsen klingen, wie zum Beispiel dieses von Jens Berger auf den „Nachdenkseiten“: „Daher hatte ich auch noch nie Verständnis für Mitbürger, die des Nachts an einer unbefahrenen Straße so lange an einer roten Ampel stehen bleiben, bis sie grün wird.“

Die Stunde der Rücksichtslosen

Hier schließen sich nahtlos jene Pseudorebellen an, die sich deswegen schon für waschechte Revolutionäre halten, weil sie eigens die Nase provokant aus der Maske hängen lassen, oder die glauben, sie leisten so etwas wie zivilen Widerstand, indem sie andere, die Wert auf die Einhaltung der Regeln legen, als „unterwürfige Ja-Sager“, „Feiglinge“ oder „Angsthasen“ verspotten.

Ja, Corona war in großen Teilen auch die Stunde der Rücksichtslosen, derjenigen, die sich für cool und lässig hielten, wenn sie einfach das taten, was sie wollten, denn niemand habe ihnen etwas vorzuschreiben. In diesem Zusammenhang kam es im vergangenen Jahr sogar zu zahlreichen schweren Gewaltakten, insbesondere gegenüber Mitarbeitern des öffentlichen Verkehrswesens

Einen Tiefpunkt markieren jene Leute, die im vergangenen Sommer einen französischen Busfahrer zu Tode prügelten, weil er darauf bestanden hatte, dass sie Masken tragen.

Skylla und Charybdis

Wenn man mich fragt, auf was für eine Seite ich mich da stellen möchte, ich weiß es nicht. Ich fühle mich eingekesselt zwischen inakzeptablen Positionen. Corona hat den öffentlichen Diskurs ruiniert.

Freilich kommt das alles nicht aus dem Nichts. Vieles stellt nur eine Zuspitzung dessen dar, was sich in den Entwicklungen der letzten Jahre bereits abgezeichnet hat: die immer stärker werdende gesellschaftliche Polarisierung, die zunehmende Feindseligkeit zwischen klassischen und sozialen Medien, die Verrohung des Tons und insbesondere die Etablierung von aggressivem Kampfvokabular. „Covidiot“ ist da nur noch eine Draufgabe. Mit anderen Worten, die Voraussetzung für all das, was jetzt passiert, war ein Verfall der Debattenkultur, den es schon länger gegeben hat.

„Es ist eine Radikalisierung des öffentlichen Diskurses zu beobachten, den manche mit der McCarthy-Zeit vergleichen“, schreibt der bereits genannte Stumberger in einem weiteren Artikel auf „Telepolis“.

Prantl drückt es — und das meines Erachtens zu Recht — so aus: „Das Virusgift hat auch den gesellschaftlichen Diskurs erfasst. Das betrifft die Befürworter der Maßnahmen genauso wie die Gegner. Es wird verbissen gestritten, nicht diskutiert. Doch die Demokratie lebt von den Zwischentönen. In der Demokratie ist nichts alternativlos.“⁴

Wie der exzessive Gebrauch von Kampfbegriffen am Ende einem autoritären Staat in die Hände spielt, wurde deutlich, als das Innenministerium den PR-Berater Rudolf Fußi mit "Verschwörungstheoretikern" und "Extremisten" in einen Topf warf, bloß weil dieser die Arbeit der Polizei kritisiert hatte. Die Empörung war groß darüber. Dabei greift die Politik hier nur auf jenes verbale Waffenarsenal zurück, das der öffentliche Diskurs in den letzten Jahren und Jahrzehnten stumpfsinnig aufgetürmt hat. 

Eine Parteiergreifung für irgendwen scheint mir inmitten dieser aufgeheizten Stimmung immer schwieriger. Ich bin ratlos, und ich weiß, dass das viele andere auch sind. Das Einzige, mit dem ich mir zu helfen weiß: Immer wieder diese falsche Form des Diskurses selbst zu thematisieren und zu diskutieren. Immer wieder auszusprechen, dass in dieser Form des Diskurses selbst schon einmal etwas grundlegend falsch ist.

Man muss lernen zwischen all diesen falschen Standpunkten hindurch zu segeln so wie der griechische Sagenheld Odysseus zwischen den Meeresungeheuern Skylla und Charybdis. Das heißt: Man muss sie transzendieren. (Ortwin Rosner, 5.3.2021)

Fußnoten

¹ Die — natürlich selbstbeweihräuchernde — Selbstcharakteristik der „Volksverpetzer“ finden Sie hier.

² Am Anfang der Coronakrise glaubte ich noch, die Reaktionen der Politik auf das Virus bedeuteten einen Ausbruch aus der post-politischen Erstarrung. Siehe dazu meinen Blogbeitrag.

³ "[...] Wissenschafter liefern keine unumstösslichen Fakten, die handlungsanleitend sein könnten und die Überlegenheit einer Ansicht begründen", schreibt auch Urs Hafner in einer Besprechung des Buches "Follow the science?" von Peter Schneider in der "Neuen Zürcher Zeitung".

⁴ Interessantes sagt dazu auch die Politikwissenschafterin Ulrike Guérot in einem Interview in der "Berliner Zeitung".

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