Den ganzen Sommer über hielt Deutschland an strengeren Regeln fest. Urlauber. Urlauber ernteten mitunter erstaunte Blicke, wenn sie mit Mund-Nasen-Schutz ein österreichisches Geschäft betraten: "Maskenpflicht? Gibt’s bei uns nimma."

Foto: Imago / IPA Photo

Besserwissen war einmal: Vorbei sind die Zeiten, als der österreichische Kanzler in Deutschland als Role-Model gehandelt wurde. Seit die Pandemie eskaliert ist, taugt das Wirken der heimischen Regierung eher als abschreckendes Beispiel.

Deutlich sind die Zahlen, die ein Jahr Corona-Krise abbilden. Die deutsche Infektionsrate liegt nicht nur derzeit unter der österreichischen, sie ist auch nie in derartige Höhen geklettert. Trauriges Spiegelbild: Die Übersterblichkeit – Todesfälle über den Durchschnitt der jüngeren Vergangenheit hinaus – stieg hierzulande ebenfalls auf ein viel dramatischeres Niveau.

Dass sich Deutschland die besseren Werte mit einer besonders harten Vollbremsung der Wirtschaft erkauft hat, lässt sich nicht behaupten: Auch bei Jobs und Wachstum haben die Nachbarn die Nase vorne.

Trügerisch entspannter Sommer

Wie kommt das? Ein Rückblick in den trügerisch entspannten Sommer. Glimpflich waren beide Länder aus der ersten Corona-Welle herausgekommen, mit den warmen Tagen, die alle Welt ins Freie lockten, rissen die Ansteckungsketten ab. Doch dann sei, wie Thomas Czypionka sagt, der "Kardinalfehler" passiert. "Zu spät und zu lasch" habe Österreich auf die drohende zweite Welle reagiert: "In der Folge sind wir den Infektionszahlen nur mehr hinterhergelaufen."

Auch die deutsche Bundeskanzlerin muss sich von Gegnern der Corona-Maßnahmen einiges anhören. Experten hingegen zollen Lob.
Foto: Imago / Leonhard Simon

Vom Contact-Tracing bis zu den Schulen: Deutschland habe sich in der Ruhe besser auf den Sturm vorbereitet, urteilt der Experte vom Institut für Höhere Studien (IHS). Selbst in Ferienstimmung machte sich dort nie so viel Laisser-faire breit wie beim südlichen Nachbarn. Urlauber ernteten mitunter erstaunte Blicke, wenn sie mit Mund-Nasen-Schutz ein österreichisches Geschäft betraten: "Maskenpflicht? Gibt’s bei uns nimma."

Der Government Response Tracker der Universität Oxford, der weltweit Anti-Corona-Maßnahmen vergleicht, zeigt: Den ganzen Sommer über hielt Deutschland an strengeren Regeln fest als Österreich. Unter dem Eindruck steigender Infektionsraten zogen beide Regierungen im Herbst schrittweise die Zügel straffer, doch nur einer gelang es, die Kurve zu kratzen. Während sich die deutschen Werte auf einem höheren Niveau einpendelten, schossen die österreichischen in Regionen, die – wie es Peter Klimek ausdrückt – "jenseits von Gut und Böse liegen".

Vielfach gescheitert

"Versagen auf vielen Ebenen" erkennt der Forscher vom Complexity Science Hub. Die Corona-Ampel, die ein verständliches Regelregime versprach, wurde im Hickhack von Bund und Ländern zum Rohrkrepierer, der Gesundheitsminister verortete trotz alarmierender Fallzahlen einen Lockdown noch Ende Oktober in weiter Ferne. Mit Schaudern erinnert sich Klimek an die Debatte, ob der Anstieg überhaupt eine zweite Welle sei: "Auch Fachleute haben da beschwichtigt."

Als endlich der Ernst der Lage durchsickerte, sei es zu spät gewesen: Haben die Fallzahlen ein Niveau erreicht, bei dem die Kontaktverfolgung nicht mehr nachkommt, verbreitet sich das Virus immer rasanter. Die herbstliche Explosion schlage sich bis heute in höherem Infektionsgeschehen nieder.

Also Vorteil für Deutschland auf der ganzen Linie? Es gibt auch Zahlen, die Zweifel am Vorbild nähren. Laut EU-Vergleich findet in Österreich derzeit ein Vielfaches an Tests statt (siehe "Österreich testest mehr" weiter unten).

Rechnen sich die Deutschen also die Sieben-Tage-Inzidenz schön, indem sie nicht so genau nachschauen? So einfach sei die Sache nicht, wendet Klimek ein, denn es komme auch auf das Setting an. Nehmen an freiwilligen Tests immer die gleichen, ohnehin disziplinierten Bürger teil, würden nicht allzu viele Infektionen aufgedeckt: "Mit gutem Contact-Tracing findet man asymptomatische Fälle eher."

Außerdem: Würde Österreich dank mehr Tests wesentlich mehr infizierte Personen finden, dann wären das häufiger asymptomatische Fälle, weshalb die Sterberate unter den Infizierten deutlich niedriger liegen müsste, argumentiert Klimek. Das ist aber, zumindest bei den Über-60-Jährigen, nicht der Fall.

Damit es die Leute verstehen

Wer die Vergleichbarkeit der Daten nicht anzweifelt, dem drängt sich eine andere Frage auf. Warum haben gerade die Deutschen den offenbar besseren Weg gefunden? Es gebe in der deutschen Politik mehr Bereitschaft, die Wissenschaft einzubinden, bietet IHS-Forscher Czypionka als Erklärung an.

Während sich die heimische Gesundheitsagentur Ages eher im Hintergrund hält, gibt es in Deutschland mit dem Robert-Koch-Institut eine renommierte Instanz, die eigenständig über die Lage informiert. Ähnliche Autorität genießt Christian Drosten, Chefvirologe an der Berliner Uni-Klinik Charité.

Die deutsche Regierung hat zu ihren Corona-Auftritten auch von Anfang an Experten geladen – für Czypionka ein Baustein zum Erfolg. "Schlüssige Erklärungen sind wichtig, damit die Leute Regeln nachvollziehen können – und dann befolgen", sagt er. Jeder, der eine Familie hat, wisse: "Kinder befolgen Regeln nicht unbedingt deshalb, weil es der Papa sagt, sondern wenn sie diese verstehen."

Man kann den Unterschied aber auch direkt an der Spitze suchen. Vielleicht liegt es an Angela Merkels Vergangenheit als Naturwissenschafterin, vielleicht am Umstand, dass sie als scheidende Kanzlerin weniger auf künftige Wahlen schielen muss. Der Erfolg gibt ihr auch in Umfragen recht: Während Österreichs Regierung nach einem kurzen Hoch mit Verlauf der Krise stetig an Sympathie verlor, liegt die deutsche Koalition besser als vor Beginn der Pandemie. (Gerald John, Datenrecherche: Michael Matzenberger)

Impfen und hoffen

Illustration: Fatih Aydogdu

Die allerersten Schätzungen erwiesen sich nicht wirklich als falsch. Impfungen gegen das Coronavirus in großem Umfang seien "nicht vor 2021" zu erwarten, verkündete die Weltgesundheitsorganisation WHO Ende Jänner 2020, und die österreichische Vakzinologin Ursula Wiedermann-Schmidt schloss sich dieser Prognose wenige Tage später öffentlich an.

Dann war in Pressemeldungen und aus der Politik in Sachen Immunisierung gegen den neuen Erreger monatelang Sendepause, in Österreich ebenso wie in Deutschland. Während in den Laboren der Corona-Vakzin-Entwickler Bahnbrechendes geschah, handelten die Impfdiskussionen in der Folge großteils vom Grippeerreger. Hierzulande begann man, die Influenza-Impfaktion im Herbst zu planen, davon ausgehend, dass man es dann mit einem viralen Doppelangriff zu tun haben werde.

Diesbezüglich kam es anders. Die Influenza- und Grippale-Infekte-Fallzahlen sind aktuell in beiden Staaten um ein Vielfaches niedriger als in normalen Jahren. Corona-Fälle hingegen gibt es genug, in Österreich sogar besorgniserregend viele, um Impfwillige ungeduldig auf mehr Tempo bei der Immunisierungsaktion hoffen zu lassen.

Tatsächlich haben in Österreich bis 18. Februar erst 3,61 Prozent der Bevölkerung zumindest eine Teilimpfung erhalten. In Deutschland waren es mit 4,9 Prozent fast um ein Drittel mehr. Ob des Nachbars Vorsprung mit besserer Organisation, konkret mit den seit Mitte Dezember bereitstehenden Impfzentren zu tun hat, ist jedoch fraglich. In beiden Ländern haben die über 80-Jährigen Vortritt, aus beiden Ländern werden logistische Schwerfälligkeiten berichtet.

Der wirkliche Run auf die Corona-Impfung startete im September, nachdem die Kommission erste Lieferverträge meldete. Ende September hielt der in den USA tätige österreichische Impfexperte Florian Krammer "Vakzine in den kommenden Monaten" für möglich, vor Weihnachten bekräftigten die Regierungsspitzen in Wien wie in Berlin, dass man allen Bürgerinnen und Bürgern im Sommer ein Impfangebot gemacht haben werde.

Am 27. Dezember wurde EU-weit zum Impfstart geblasen. Die damit einhergehenden großen Hoffnungen sind inzwischen allgemeinem Daumendrücken gewichen, dass die Vakzine bis zur ersten Durchimpfung auch gegen die Mutanten wirken. (Irene Brickner)

Vages Wissen über Varianten

Illustration: Fatih Aydogdu

Seit Beginn des Jahres hat die Pandemie mit den Virusvarianten noch einmal eine ganz neue Dynamik bekommen. Sowohl Österreich als auch Deutschland waren darauf eher schlecht vorbereitet – insbesondere im Vergleich zu Ländern wie Großbritannien oder Dänemark. Dort wurden bereits seit Monaten in großem Stil Virengenome sequenziert, um Mutationen aufzuspüren.

Deutschland und Österreich lagen bei dieser Aufgabe 2020 nur im europäischen Mittelfeld; Österreich war dank der Initiative von Andreas Bergthaler vom ÖAW-Institut CeMM in Wien sogar noch etwas besser aufgestellt. Rund um den Jahreswechsel hat Österreich auf wissenschaftlicher Seite prompt reagiert: Bergthaler und sein Team schaffen nun bis zu 400 Vollgenomanalysen pro Woche; am IMBA/IMP in Wien und an der Med-Uni Innsbruck kommen noch einmal gut 2000 wöchentliche Teilgenomsequenzierungen dazu. Die österreichische Wissenschaft liefert also massig Mutationsdaten, deren Fülle sich auch im europäischen Vergleich sehen lassen kann.

Doch es fehlt eine schlüssige Zusammenführung dieser Informationen. Zwar gibt es mittlerweile eine von der zuständigen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (Ages) betriebene Homepage über die Ausbreitung der Virusmutationen. Die dort präsentierten Zahlen und Grafiken sind aber auch für Fachleute kaum durchschaubar.

Entsprechend vage und fragmentarisch ist das Bild über die Lage: "Daten aus den östlichen Bundesländern legen nahe, dass die Virusvariante B.1.1.7 das Infektionsgeschehen bereits dominiert", heißt es im aktuellen Lagebericht der Corona-Kommission sehr allgemein, dann folgen Bundesländerzahlen, die mit den im Netz veröffentlichten Daten wenig zu tun haben. Auch die Angaben zur Verbreitung der Mutante B.1.351 in Tirol lassen zu wünschen übrig.

In Deutschland wird zwar in Relation eher weniger sequenziert als in Österreich. Aber das Robert-Koch-Institut hat diese Woche den bereits zweiten ausführlichen Lagebericht veröffentlicht, der einen guten Überblick gibt: Nach diesen Daten stieg der Anteil der britischen Mutante B.1.1.7 binnen zwei Wochen von knapp sechs auf mehr als 22 Prozent und dürfte dabei Österreich rund zwei Wochen hinterherhinken – so die hiesigen Angaben stimmen. (Klaus Taschwer)

Österreich testet mehr

Illustration: Fatih Aydogdu

Die Anzahl Corona-positiver Menschen mit harten Lockdown-Maßnahmen auf ein Minimum herunterdrücken, um dann irgendwann Lockerungen zu wagen. So lautet die deutsche Anti-Corona-Strategie, zumindest im Bund. Aus einem diffusen, stetig überhöhten Infektionsgeschehen möglichst viele angesteckte Personen herausfiltern, um mit Semi-Lockdown-Maßnahmen ohne Fallzahlexplosion bis zur Massenimpfung über die Runden zu kommen. Das ist der österreichische Weg.

Dieser ist ohne intensives Testgeschehen undenkbar – und laut einer Reihe Experten trotz Tests mit dem beträchtlichen Risiko einer weiteren Infektionswelle verbunden. Andere sehen darin aber auch eine Chance: Verbunden mit konsequenten Quarantänemaßnahmen könnten die nun regelmäßigen Antigentests an Schülerinnen und Schülern Positivfälle in Kreisen finden, die sich sonst nicht hätten untersuchen lassen, sagt der Simulationsexperte Niki Popper.

Im Unterschied zum Nachbarstaat hat Österreich in der Pandemie bereits relativ früh auf das Durchtesten ganzer Gruppen gesetzt. Noch im Sommer wurden den Gastronomiebetrieben allwöchentliche freiwillige und kostenlose PCR-Abstriche der im Kundenkontakt stehenden Belegschaft angeboten. Im Dezember, am Ende von Lockdown Nummer zwei, versprach sich Bundeskanzler Sebastian Kurz von Antigen-Massentests für die gesamte Bevölkerung eine Fallverringerung. Das trat nur bedingt ein.

Besagten Antigentests steht man in Deutschland skeptisch gegenüber. Ihre Treffsicherheit sei jener von PCR-Tests unterlegen, wird kritisiert. Auch müssten die Abstrich- und Spucktests laut den in Deutschland wie Österreich geltenden, EU-rechtskonformen Medizinproduktegesetzen nicht unabhängig auf ihre Wirksamkeit überprüft werden. Tatsächlich reichen bis zu einer – angekündigten – Novelle die Angaben der Hersteller.

Dennoch prüft man jetzt in Deutschland einige einschlägige Produkte, denn ab 1. März sollen deutsche Apotheken Antigentestungen anbieten. In Österreich ist diese Aktion bereits ausgerollt. Bei der österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (Ages) heißt es zu alldem, die Vorteile systematischer und regelmäßiger Tests würden mögliche Nachteile – sprich Unschärfen – überwiegen. (Irene Brickner)

Virale Wachstumslücke

Illustration: Fatih Aydogdu

Berge, Theater und Kaffeehäuser – was normalerweise eine ökonomische Stärke ist, wurde Österreich nun zum Verhängnis. Vergangene Krisen wurden von den Geschicken des Weltmarkts, also von außen, hereingetragen. Da war es vorteilhaft, dass Dienstleistungssektoren weniger exponiert sind. Doch wenn weltweit das gesellschaftliche Leben und die Reisemöglichkeiten zurückgefahren werden, leiden jene Volkswirtschaften am meisten, die in normalen Zeiten viel Geld damit verdienen.

Laut jüngsten Prognosen brach die Wirtschaftsleistung hierzulande im Vorjahr um zwei bis drei Prozentpunkte stärker ein als in Deutschland. Da wie dort trafen die Lockdowns die Hoteliers und Wirte. Noch mehr litten der Kultur- und Veranstaltungsbetrieb sowie die Transportbranche.

In Österreich macht auch dieser Sektor einen größeren Anteil an der gesamten Wertschöpfung aus als in Deutschland. Das erklärt den Löwenanteil des schwächeren Wachstums, wie der Chefökonom der Industriellenvereinigung, Christian Helmenstein, betont. Auch der Bausektor erlebte in Österreich ein Minus, kam in Deutschland dagegen sehr glimpflich durch das Jahr eins der Corona-Krise.

Neben der Zusammensetzung der Wirtschaft spielte in Österreich mit, dass die Lockdowns länger und härter waren, wie ein Index der Universität Oxford verdeutlicht. Demnach gab es 2020 hierzulande 79 Tage mit sehr scharfen Corona-Maßnahmen, in Deutschland waren es 45. Dass die Infektionszahlen nach dem Sommer, anders als im Nachbarland, drastisch emporschnellten, schadete der Wirtschaft, auch unabhängig von geschlossenen Theatern und Cafés. Verunsicherte Konsumenten geben weniger Geld aus, wie die hohe Sparquote verdeutlicht.

Letztlich schlug die Krise auch auf die Staatsfinanzen durch. Das Budgetdefizit in Österreich war im Vorjahr mit rund zehn Prozent der Wirtschaftsleistung doppelt so groß wie in der Bundesrepublik.

Das liegt nicht nur an der tieferen Rezession, sondern auch an den üppigeren Hilfspaketen, sagte der Chef des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Gabriel Felbermayr. Ob der tiefe Griff in die Staatskasse notwendig war, um Schlimmeres zu verhindern, oder von wenig effizienten Rettungspaketen zeugt, lässt sich wohl erst in Zukunft beurteilen. (Leopold Stefan, 21.2.2021)