Unschuldig und durchtrieben zugleich – die Mischung macht die Musik Nancy Sinatras so einzigartig. Nachzuhören auf "Start Walkin’".

Foto: Eliana Umansky

Nancy Sinatra betrat in der "Welcome Home Elvis"-Show ihres Vaters Frank erstmals die Bühne. Einen prominenteren Termin gab es in dem Jahr nicht. 1960 war das und Nancy noch ein Teenager, der zwischen zwei der populärsten Entertainer der Welt ihr Debüt gab. Millionen klebten an den Empfangsgeräten, doch anstatt wie eine Rakete abzuheben, sumperte Nancys Karriere die nächsten paar Jahre bescheiden vor sich hin. Eine überstürzt eingegangene Ehe wurde geschieden, und mit 25 Jahren stellte sich deutlich die Sinnfrage. Das konnte der Herr Papa nicht mitansehen, so wurde das Alphatier aktiv.

Frank brachte Nancy mit Lee Hazlewood zusammen. Der besaß als Songwriter und Produzent einen guten Ruf – er hatte für Duane Eddy in den 1950ern Hits produziert. Und zwar dermaßen erfolgreich, dass er sich mit Anfang 30 zur Ruhe setzte. Kurz.

Papa in Hörweite

1965 saß er im Wohnzimmer von Nancys Mutter. Hazlewood war damals 36; er stammte aus Oklahoma, war klein gewachsen, kompensierte das aber mit einer stattlichen Rotzbremse. In den Linernotes von Start Walkin’ erinnert sich Nancy daran, wie Hazlewood ihr ein paar Songs vorspielte, während Frank in Hörweite saß und so tat, als würde er Zeitung lesen.

Start Walkin’ ist der Titel einer eben erschienenen Werkschau der Nancy Sinatra. Sie umfasst die Jahre 1965 bis 1976 und zeigt einmal mehr: Frankie bewies Instinkt mit Hazlewood – und der ließ sich die Chance nicht entgehen.

Friday's Child – ein Sunny Side Down-Song.
TheBoyCub

Unter seinen Fittichen wurde aus der im Schatten eines Giganten stehenden Tochter ein eigenständiger Star. Mehr noch: Nancy wurde eine Marke. Sie färbte sich die Haare blond und wurde ein Postergirl der Sixties, eines der ersten It-Girls und als Duettpartnerin von Hazlewood Teil einer im Pop bis heute populären Rollenverteilung: das unschuldig-kokette Mädchen und der schmutzige alte Mann.

Hazlewoods Songs änderten ihr Image. Wenn sie am Mikro zu harmlos rüberkam, unterbrach er die Aufnahmen: "You’re not a virgin any more", sagte er dann, "bite the words!"

Das Lied mit den Stiefeln

Nancy wiederum überzeugte ihn davon, dass eines seiner Lieder stärker wirken würde, wenn es eine Frau sänge. Es handelte sich um ein Stück, das Lee selbst interpretieren wollte. Er hatte den Titel aufgeschnappt, als ein Trucker in einem Diner über seine untreue Frau schimpfte.

Dessen Tirade gipfelte in dem Satz "One day these boots are gonna walk all over her" – Hazlewood schrieb auf einer Serviette mit. So entstand These Boots Are Made for Walking – und Nancy machte daraus einen Welthit und sanierte Hazlewood für alle Zeiten. Das war Anfang 1966. Nicht weniger als vier Alben produzierten Sinatra und Hazlewood allein in dem Jahr.

"Theses Boots are made for Walking ..."
weissebrauen

In Nancys Emanzipation widerspiegelte sich der Zeitgeist. Angesichts des Vietnamkrieges radikalisierte sie sich nachgerade. Zwar trat sie fahnentreu für die Truppen drüben in Asien auf, gleichzeitig fühlte sie sich den Anliegen der Gegenkultur verbunden.

Hippies und Hausfrauen

Unter diesem Eindruck gerieten Hazlewoods Songs mysteriöser, Nancys Interpretationen perfider: Er hatte seine Freude daran, verbotene Themen in harmlose Popsongs zu packen. Das LSD-selige Sugar Town sprach Hippies genauso an wie Hausfrauen, die sich überm Bügelbrett über das nette Lied aus dem Radio freuten. Nancy kredenzte diese Songs in einer Mischung aus Unschuld und Durchtriebenheit, war das All American Girl – und auch wieder nicht.

Bürgerliche Psychedelic

1967 erschienen Album Nummer fünf und sechs, und zum Drüberstreuen sang Nancy im selben Jahr den aktuellen James-Bond-Song You Only Live Twice: Nancy Sinatra Superstar! Sie war ganz oben, und es wurde noch besser: 1968 erschien das Duettalbum Nancy & Lee. Mit Songs wie Sand, Summer Wine, Some Velvet Morning oder Lady Bird wurde es ein Instant-Klassiker.

Nancy & Lee – Klassikaner.
Foto: Ron Joy

Die Mischung aus bürgerlicher Psychedelic, progressivem Country und Blumenkinder-Folk markierte einen weiteren Höhepunkt in Nancys Karriere. Doch Hazlewood gefiel sich besser als Mann im Hintergrund, das hatte er jetzt versemmelt. Er empfahl sich nach Schweden, zudem er seine Söhne vor der Einberufung schützen wollte, hieß es.

Ein Video aus einen Schulprojekt – Nancy & Lee – pädagogisch wertvoll.
tresamigas lindas

Zurück blieb eine ratlose Nancy Sinatra, deren Musik ohne ihren kongenialen Partner beträchtlich weniger originell wurde. Sie fühlte sich verraten und verlassen. Ein zweites Nancy-&-Lee-Album reichte 1971 nicht an die Klasse des ersten heran.

Neue Generation von Fans

Start Walkin’ ist diesbezüglich gnädig und pickt aus den Jahren bis 1976 Songs heraus, die das Niveau halbwegs halten. Die Klassiker aber begannen ein Eigenleben zu führen. In den 1980ern, als Sinatra nach dem Krebstod ihres zweiten Mannes am Boden zerstört war, entdeckte eine neue Generation ihr Werk: Typen wie Nick Cave, Lydia Lunch oder Bands wie Sonic Youth waren Fans.

Bang Bang!
John1948NineD

Mit 54 posierte sie nackt im Playboy – ein Verzweiflungsakt, von dem sie sich Aufmerksamkeit für ihre Karriere erhoffte. Das funktionierte mäßig, doch in der Welt der gerade triumphierenden Alternative Music untermauerte die Playboy-Episode das coole Image Sinatras – sie ging endgültig in den Legendenstatus über.

Fanboy Tarantino

2003 verwendete Quentin Tarantino ihre Version von Bang Bang (My Baby Shot Me Down) in Kill Bill Volume I. Den Song sang ursprünglich Cher, doch erst Nancy holte raus, was rauszuholen war. Nachzuhören natürlich auf Start Walkin’. In den Nullern war Morrissey ihr Nachbar in L.A., und die Pop-Prominenz ging auch bei ihr ein und aus, nahm mit ihr auf und huldigte der ewigen Blondine.

Start Walkin’ ballt die Strahlkraft der Musik der heute 80-Jährigen: 23 Songs, ein wirklich schlechter ist nicht darunter. Fakt. Wer etwas anderes behauptet, sollte besser in Deckung gehen: Bang Bang! (Karl Fluch, 20.2.2021)