Unmut muss ein Ventil haben: zu demonstrieren ist ein solches, sagt Heribert Prantl im Gastkommentar.

Die Demonstration ist das Grundrecht der Unzufriedenen und der Unbequemen. Polizei beim Anti-Corona-Protest am 31. Jänner in Wien.
Foto: Robert Newald

Nicht die Freiheit muss sich rechtfertigen, sondern ihre Beschränkung und Begrenzung: So lernen es die Juristen schon im Anfängerseminar. In der Corona-Zeit begann dieser Satz zu wackeln und zu bröckeln; er wurde von der Politik umgedreht. Daher war und ist der Lehrsatz von der Verhältnismäßigkeit der Mittel noch nie so wichtig wie in der Corona-Krise. Er ist kein Wischiwaschi-Satz. Es ist ein Satz mit Substanz, ein Kernsatz des Rechts. Und "Maß halten" – das ist kein Wort zum Schmunzeln, sondern ein Wort, das die Grundrechte vor übermäßigen Eingriffen schützen soll; es ist ein rechtsstaatlicher Überspannungsschutz.

Es ist eine Stimmung entstanden, die Grundrechte in Krisenzeiten als Gefahr betrachtet. Man konnte und kann beobachten, wie ansonsten kritische, aber sehr gesundheitsbesorgte Menschen schon aggressiv reagieren, wenn einer zu fragen wagt, ob es denn angemessen und verhältnismäßig sei, was der Staat da an Verboten verordne. Wer sich nicht daran gewöhnen möchte, dass massivste Einschränkungen der Grundrechte zu den Bewältigungsstrategien einer Krise gehören, sieht sich schnell in eine Reihe mit "Querdenkern", "Covidioten" oder gar mit Neonazis gestellt, die sich die Grundrechte, die sie sonst verachten, jetzt auf einmal wie einen Tarnanzug überziehen.

Keine Verschwörungsfuzzis

Die Aufregung über echte und angebliche Verschwörungsfantasten überlagert die notwendige Diskussion über die Einschränkung von Grundrechten. Es darf nicht so weit kommen, dass diejenigen, die die Grundrechte verteidigen oder die aus existenzieller Angst gegen die Schutzverordnungen protestieren, weil diese sie wirtschaftlich und psychisch zum Absturz bringen, auf einmal als Verschwörungsfuzzis abgefertigt werden. Das Wort "Verschwörungstheoretiker" ist ein Diskussions-Totschlag-Wort geworden, mit dem denen, die anderer Meinung sind, der Mund gestopft werden soll. Und wer zu oft "Verfassung" sagt, macht sich verdächtig. Das ist nicht gut.

Grundrechte sind nicht eine Art Konfetti für schöne Zeiten. Sie heißen Grundrechte, weil sie sich in Notzeiten grundlegend bewähren müssen. Demokratie lebt von mündigen Bürgerinnen und Bürgern und vom permanenten Aushandeln von Kompromissen – die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen, aber alle anderen Interessen, Bedürfnisse und Notwendigkeiten in den Blick nehmen. Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse sind wie die geisteswissenschaftlichen meist nicht völlig eindeutig; sie unterliegen einem Wandel und unterschiedlichen Einschätzungen. Eine Politik, die schlechtes Gewissen, Panik und Angst schürt, ist da kontraproduktiv. Und eine Politik, die behauptet, die Anti-Corona-Maßnahmen seien allesamt "alternativlos", ist undemokratisch.

Welche Antworten auf die Pandemie auch immer gesucht und gefunden werden – das Suchen und Finden darf kein autoritäres werden; es muss ein demokratisches Suchen und Finden bleiben. Es muss mit dem Wissen einhergehen, dass es immer eine Vielheit von Stimmen und Alternativen, dass es den mühsamen Weg des Hörens, Verstehens und Aushandelns gibt. Nicht nur die Bekämpfung des Virus ist das Ziel. Auch der Weg dahin ist das Ziel – nämlich dabei die Gesundheit der Demokratie und den gesellschaftlichen Ausgleich zu bewahren.

"Unzufrieden sein, unbequem sein, empört sein, auch aufsässig: Man darf das, ja; und man soll das auch zeigen und zeigen dürfen."

Die Pressefreiheit heißt Pressefreiheit, weil die Presse die Freiheit verteidigen soll. Es gilt heute, die Freiheit unter der Gefahr des Coronavirus zu verteidigen. Die Verteidigung besteht darin, die Grundrechte zu schützen – zu schützen davor, dass die Maßnahmen gegen das Virus von den Grundrechten nur noch die Hülle übriglassen. Pressefreiheit besteht in der Warnung davor, dass Notgesetze einfach immer wieder verlängert werden. Pressefreiheit ist dafür da, hemmungslos zu fragen und zu recherchieren, was die Verbote nützen und welche Schäden sie verursachen. Demokratie stellt nicht soziale Distanz her, Demokratie will soziale Distanz überwinden. Eine Demokratie leidet daher massiv an Kontaktverboten, so notwendig sie kurzzeitig sein mögen. Aus Notmaßnahmen darf nicht maßlose Not werden.

Wenn Politiker beim Wort "Grundrechte" immer öfter allergisch reagieren, ist das kein Grund zurückzuweichen, im Gegenteil: Das ist der beste Grund für Journalistinnen und Journalisten, sie umso größer zu schreiben. Das gilt auch dann, wenn Menschen auf Demos und in Diskussionen schiefe Vergleiche ziehen und die Diktatur schon um die Ecke biegen sehen. Das tut sie nicht; der Eifer und das Gefühl der Protestierer, gegen einen mächtigen Mainstream zu stehen, führt bisweilen zu geschichtsblinder Übertreibung. Das ist nicht gut und schadet dem Protest. Aber es kann trotzdem gefährlich werden, diesen Protest zu verachten: Wer dauernd Idiot genannt wird, fängt womöglich an, einer zu werden, stur und trotzig, irrational und unsozial. Demonstranten pauschal zu Idioten zu erklären ist darum idiotisch.

Der Vernunft trauen

Eine gute Demokratie muss auch an die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger glauben, sie muss diese Eigenverantwortung stärken und nicht denunzieren; eine gute Demokratie traut der Vernunft ihrer Bürgerinnen und Bürger – und zwar auch dann, wenn diese Bürgerinnen und Bürger protestieren und demonstrieren. Die Demonstrationsfreiheit ist ein Ur-Grundrecht. Sie gehört zur Kernsubstanz der Demokratie, auch in Corona-Zeiten. Sie ist das Grundrecht der Unzufriedenen und der Unbequemen.

Sie ist auch das Grundrecht der Aufsässigen. In einer Demokratie darf man unzufrieden, unbequem, auch aufsässig sein – solange man sich dabei nicht strafbar macht. Unzufrieden sein, unbequem sein, empört sein, auch aufsässig: Man darf das, ja; und man soll das auch zeigen und zeigen dürfen. Das ist keine Verirrung der Demokratie, das ist Demokratie.

Kurz: Unmut muss ein Ventil haben, auch in Corona-Zeiten. Die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit ist so ein Ventil. Aber: Das, was aus dem Ventil herauskommt, darf nicht giftig sein Es gibt Grenzen des Tolerablen. Die verlaufen dort, wo die Gewalt, die Volksverhetzung und die Gesundheitsgefährdung beginnen. (Heribert Prantl, 21.2.2021)