Die Debatte um Sondervoten bei verfassungsgerichtlichen Entscheidungen ist eine uralte. Die zentrale Frage: Sollen auch die Argumente jener Verfassungsrichterinnen und -richter veröffentlicht werden, die keine Mehrheit gefunden haben? Ja, denn das sorge für Transparenz, sagen die einen und blicken etwa auf Deutschland, wo es seit 1970 das Minderheitenvotum für das Bundesverfassungsgericht gibt. Nein, das schwäche die Glaubwürdigkeit, sagen die anderen und fürchten, dass die Akzeptanz höchstgerichtlicher Urteile leidet, wenn Dissens öffentlich wird.
Es gab schon mehrmals Anläufe, Sondervoten einzuführen. Bislang stellte sich die ÖVP quer, zuletzt etwa 2016 gegen einen Vorschlag der SPÖ, ihrer damaligen Koalitionspartnerin. Die war bisher zwar keine flammende Verfechterin des Sondervotums, sprang aber auch nicht dagegen in die Presche. Die FPÖ stand noch vor fünf Jahren auf der Seite der ÖVP, Neos und Grüne hätten dem roten Vorschlag durchaus etwas abgewinnen können.
Minderheitenvotum wäre ein Paradigmenwechsel
Eine parlamentarische Enquette zum Thema gab es schon im Jahr 1998. Nun soll das Sondervotum, auch Minderheitenvotum genannt, im Zuge des neuen Informationsfreiheitsgesetzes tatsächlich kommen – und zwar auf Initiative von ÖVP und Grünen und nur, sofern sich für das Informationsfreiheitspaket eine Zweidrittelmehrheit finden lässt.
Das wäre ein Paradigmenwechsel, sagt Verfassungsjurist Heinz Mayer. Und zwar einer, den er begrüßen würde, immerhin fordert er ein Sondervotum selbst seit 30 Jahren. Das vielgebrachte Argument, der VfGH müsse als derart gewichtiges Organ Einigkeit nach außen tragen, lässt Mayer dabei nicht gelten: "Kein Mensch glaubt ja, dass jede Entscheidung einstimmig fällt", sagt er. Es sei "nicht vertretbar", wenn man bei einer Debatte von so vielen Beteiligten so tue, "als gebe es keinen Widerspruch". Außerdem würden gute Argumente die Debatte anheizen: Werden Minderheitsmeinungen veröffentlicht, können sie in die Fachdiskussion einfließen.
Wartezeit für Ex-Politiker
Ebenfalls nicht neu ist die Diskussion um eine Cooling-Off-Phase, eine solche soll künftig eingeführt werden, geht es nach dem jüngsten Plan der Regierung. Zwar gibt es am VfGH eine Wartefrist für Expolitikerinnen und -politiker, aber nur für den Präsidentschafts- und Stellvertretungsposten. Sie müssen fünf Jahre warten, wenn sie aus einem politischen Hochamt kommen. Einfacher Verfassungsrichter kann auch jemand werden, der gerade eben noch ein Ministeramt innehatte – das soll sich mit dem neuen Informationsfreiheitsgesetz ändern.
Jüngstes – und recht einzigartiges – Beispiel dafür ist Wolfgang Brandstetter, ehemaliger parteiloser Justizminister und Vizekanzler, entsandt von der ÖVP. Seine Bestellung Anfang 2018 – und damit nur wenige Wochen nach seiner Amtszeit – ließ die Wogen hochgehen, von einer "Lex Brandstetter" war da die Rede, und von einem Vertrauensverlust in den VfGH.
Nun könnte man der Kritik entgegenhalten, dass auch ohne Cooling-Off-Phase eine parteipolitische Besetzung der Richterinnen- und Richterposten nicht nur möglich, sondern sogar dem System geschuldet ist. Denn die Mitglieder des VfGH werden anteilsmäßig von der Bundesregierung, dem Nationalrat und dem Bundesrat vorgeschlagen. Im VfGH betont man aber stets: Nach ihrem Amtsantritt agieren die Mitglieder völlig unabhängig und nicht entlang parteipolitischer Zuordnungen. So kann ein VfGH-Richter etwa ablehnen, dass er sich mit bestimmten Akten befasst, wenn er sich für befangen hält.
Kritik an Besetzungen kehrt immer wieder
Dennoch, so sagt Mayer, komme ein Minister "aus einer hochpolitischen Funktion in eine Funktion, in der er objektiv und neutral handeln soll. Und wie das funktionieren kann, ist mir schleierhaft". Wenn jemand erst jede Woche im Ministerrat sitze und an allen Entscheidungen beteiligt sein kann, könne er danach nicht neutral judizieren, sagt Mayer. Das sei "absolut unverträglich", eine Cooling-Off-Phase daher höchst an der Zeit.
Tatsächlich kam es auch bei anderen Höchstrichterinnen und -richtern zu heftiger Kritik, auch wenn diese nicht aus einem Minister- oder Ministerinnenamt kamen. Kritisiert wurde etwa die Bestellung von Rechtsanwalt Michael Rami, der zahlreiche FPÖ-Politiker vertreten hatte, oder die von Universitätsprofessor Andreas Hauer wegen seiner Verbindung zu schlagenden Burschenschaften. Verena Madner etwa wurde wegen ihrer Mitgliedschaft im wissenschaftlichen Beirat der Bildungswerkstatt der Grünen skeptisch beäugt.
VfGH hält sich momentan noch bedeckt
Die unmittelbar Betroffenen – die amtierenden Richterinnen und Richter des VfGHs – versuchen, Einigkeit zu zeigen. Was von den Änderungen zu halten ist, müsse Präsident Christoph Grabenwarter kommunizieren. Doch bevor der VfGH den Gesetzesentwurf nicht geprüft hat, wird es keine Stellungnahme dazu geben, heißt es aus dem VfGH. (Gabriele Scherndl, 20.20.2021)