Tove Ditlevsen 1952 im Alter von 34 Jahren. Sie hat die erste Phase ihrer Medikamentensucht hinter sich. "Schreiben heißt, sich selbst auszuliefern, sonst ist es keine Kunst", stellte die Autorin einmal fest.

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Wenn der Mann in der Arbeit und der Sohn in der Schule sind, sitzt die Mutter mit einer "fernen Ruhe in ihrem seltsamen Herzen" auf ihrem Stuhl. Die kleine Tove darf sie dann nicht ansprechen, ihr am besten nicht auffallen. Denn "am Morgen war die Hoffnung da", schreibt Tove Ditlevsen über diese Stunden, "bis der Vormittag alt wurde und sie auf die Istedgade zum Einkaufen gehen musste wie die gewöhnlichen Hausfrauen". Manchmal wird die Mutter das Kind in ihrem dunklen Zorn und ihrer Furcht vor der Welt auch schlagen oder gegen den Ofen stoßen. "Von nun an und bis zum nächsten Morgen waren sich nur unsere Körper nah. Und trotz der Enge mieden sie jede noch so leichte Berührung."

Mit diesem harten Einstieg beginnt Tove Ditlevsens schmaler Band Kindheit. 1967 geschrieben, wurde er nun in 16 Ländern erst- oder wiederveröffentlicht, gemeinsam mit den beiden Folgebänden Jugend (1967) und Abhängigkeit (1971). Darin erzählt die dänische Autorin schonungslos ihre Lebensgeschichte bis zum Alter von etwa 30 Jahren. Sie wird dafür als Vorläuferin von Annie Ernaux oder Karl Ove Knausgård gefeiert, die mit ihren autofiktionalen Romanen zuletzt Furore gemacht haben. Vergangenes Jahr wurde das 1901 verfasste Ich erwarte die Ankunft des Teufels der Kanadierin Mary MacLane in ähnlicher Weise als frühes Zeugnis widerständigen weiblichen autobiografischen Schreibens auf Deutsch übertragen.

Aus der Seelenbibliothek

Ditlevsen scheibt nicht weniger rebellisch. 1917 in Kopenhagen geboren, erklärte sie einmal, sie schreibe aus der "Seelenbibliothek" ihrer Kindheit, "aus der ich bis an mein Lebensende Wissen und Erfahrungen schöpfen werde". Tatsächlich lässt sich in den Bänden viel Schmerz, Verletzung und frühe Prägung nachverfolgen. Die offensichtlichste mag sein, das Tulle, wie sie als Kind genannt wird, sich zur Wappnung gegen die Angriffe der Mutter still Gedichte und Lieder vorsagt. Zeitlebens wird Schreiben das Einzige sein, was sie glücklich macht. "Wenn ich gerade nicht schreibe, weiß ich nichts mit mir anzufangen", heißt es mehr als einmal.

Mit diesem Sensorium ausgestattet, seziert Ditlevsen die Verhältnisse und zeichnet ohne Pathos ein soziales Bild ihrer Zeit. Toves Vater ist Heizer, Sozialist und oft arbeitslos, die Familie arm. Doch hat er "gewisse Rechte, weil er ein Mann ist und uns alle versorgt". Der Bruder "ist der Stolz der Familie. Denn das sind die Jungen nun mal, während die Mädchen einfach nur heiraten und Kinder kriegen sollen. Etwas anderes dürfen sie weder erwarten noch hoffen." Als Tove dem Vater eröffnet, sie wolle Autorin werden, und der kontert, ein Mädchen könne das nicht, schwört sie sich, "nie wieder jemand anderem meine Träume zu verraten und hielt mich meine ganze Kindheit über daran". Mit zwölf schreibt sie melancholische Lyrik.

Aus der Perspektive des Mädchens

Nicht kommentierend aus der Position der erwachsenen Autorin, sondern in den Schuhen des Mädchens betrachtet Ditlevsen sich in Kindheit und Jugend also selbst nachträglich beim Heranwachsen. Als wären die historischen Bedingungen (nebenbei überfällt Hitler halb Europa), die Szenen der Armut, des Patriarchats, die Halbkenntnis, mit der Mädchen in die Welt geschickt werden, und die Selbstanalysen der jungen Frau nicht interessant genug, begeistern die Bilder, die sie für vieles findet. "Dunkel ist die Kindheit, und sie winselt wie ein kleines Tier, das man in einen Keller eingesperrt und vergessen hat."

Ditlevsen beginnt nach der Schule, weil die Familie sich das Gymnasium nicht leisten kann, als Hausmädchen und Sekretärin zu arbeiten. Schon früh ist ihr klar, dass sie Kinder will, aber keinen Mann, denn der hielte sie nur vom Schreiben ab. Trotzdem küsst sie bald jeden Abend im Hauseingang einen anderen, aber ohne sich zu verlieben. Dass sie niemanden richtig liebt, quält und sorgt sie zeitlebens. Später will sie doch die Sicherheit eines Heims und Ernährers, betrügt ihre Ehemänner aber immer wieder.

Erfolg und Unglück

Auch der schon mit der ersten Veröffentlichung – das Gedicht handelt von einer Totgeburt aus der Sicht einer Mutter – einsetzende Erfolg bei Lesern und Kritik bewahrt sie nicht vor dem persönlichen Absturz, auf den sie ab 25 Jahren zusteuert. Den zweiten Ehemann und ihr erstes Kind muss sie mit dem Geld, das sie mit Büchern und Gedichten verdient, über Wasser halten. Fatal ist aber Ehemann Nummer drei, ein Arzt. Denn nach ihrer zweiten Abtreibung (die erste schildert sie ebenso detailreich wie den mühsamen Weg dorthin) wird Ditlevsen abhängig von Narkotika. Sie heiratet ihn nur der Spritzen wegen.

Immer wieder ist sie in psychiatrischen Kliniken auf Entzug. Dort entstehen auch die drei Bände. Es sollte aber nichts helfen, Ditlevsen stirbt 1976 mit 58 an einer Überdosis Tabletten. Nach ihrem Tod wird kommentiert, sie habe die Lebenswirklichkeit und den Schmerz von vielen Frauen beschrieben. Das liest sich schnörkellos und eindrücklich. (Michael Wurmitzer, 22.2.2021)