Nawalny gilt vielen als der größte Widersacher und härteste Kritiker des russischen Präsidenten Putin.

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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte vergangene Woche die "umgehende Freilassung" Alexej Nawalnys gefordert. Daraus wurde erwartungsgemäß nichts. Vergeblich wiesen der Oppositionspolitiker und dessen Verteidiger in der Berufungsverhandlung am Samstag in Moskau auf den Richterspruch aus Straßburg hin. Der EGMR habe schon das ursprüngliche Urteil 2014 wegen Betrugs als ungerecht eingestuft. "Ich aber werde deswegen verurteilt und verurteilt und verurteilt", klagte Nawalny.

Am Samstag zog ihm Richter Dmitri Balaschow immerhin 1,5 Monate von seiner Freiheitsstrafe ab, indem er ihm nachträglich eine bereits im Hausarrest verbüßte Frist anrechnete. So sind es jetzt noch zwei Jahre und fünf Monate, die Nawalny wegen angeblichen Betrugs am Kosmetikkonzern Yves Rocher verbüßen soll.

Einige Stunden später bekam der 44-Jährige die nächste Strafe aufgebrummt: Wegen Verleumdung eines Weltkriegsveteranen verurteilte das Gericht Nawalny zu 850.000 Rubel (umgerechnet 10.000 Euro) Geldstrafe. Nawalny hatte im vergangenen Jahr in seiner Kampagne gegen die Verfassungsänderung zur Amtszeitverlängerung Wladimir Putins ein Agitationsvideo attackiert und die Beteiligten daran als "Kriecher" und "Verräter" beschimpft.

93-Jähriger klagte wegen Verleumdung

Einer davon, der 93-jährige Ignat Artemenko, klagte daraufhin wegen Verleumdung, wobei während des Prozesses unklar blieb, ob der Veteran die Klage tatsächlich persönlich initiiert hatte. Eine von der Verteidigung geforderte Überprüfung der Unterschriften jedenfalls ließ die Richterin nicht zu. Auch das Argument, dass es sich höchstens um Beleidigung, nicht aber um Verleumdung gehandelt habe, wurde abgewiesen. Die Summe geht übrigens nicht an den Veteranen, sondern wird zugunsten des Staates eingezogen.

In seinen Schlussworten hatte Nawalny in beiden Prozessen mehrfach auf die Absurdität der Anklage hingewiesen und dies unter anderem durch die Verlesung eines Rezepts zum Einsalzen von Gurken verdeutlicht, "da es ja ohnehin keinen Sinn hat, über juristische Dinge zu sprechen". Am Samstag erhöhte Nawalny, der sich als gläubig zu erkennen gab, mit Anleihen aus dem Matthäus-Evangelium dann den Pathosgehalt des Prozesses, indem er seine Verfolgung mit seiner "Suche nach der Wahrheit" erklärte.

In der Tat gilt Nawalny, auch wenn er auf keinem Wahlzettel steht, vielen als der größte Widersacher und härteste Kritiker des russischen Präsidenten. Zuletzt hatte er mit der Veröffentlichung über einen Luxuspalast am Schwarzen Meer, der angeblich dem Kremlchef gehören soll, dessen Unmut erregt.

Mehr als 100 Millionen Mal wurde das Video angeklickt, mehr als ein Viertel aller Russen hat es Umfragen zufolge gesehen, sodass sich der Kreml – entgegen seinem gewöhnlichen Schweigen – zu einer Reaktion veranlasst sah und die Immobilie auf den Milliardär und Judo-Partner Putins Arkadi Rotenberg "überschrieb".

Weitere Prozesse folgen

Und dem Querulanten drohen die nächsten Prozesse. Schlimmer als die Geldstrafe im Verleumdungsprozess sind die neuen Perspektiven. Denn das Ermittlungskomitee soll nun Nawalnys Aussagen während des Prozesses auf weitere Beleidigungen gegenüber Richterin, Staatsanwältin und dem Veteranen prüfen. Nawalny hatte wegen seiner Verfolgung unter anderem sarkastisch gefragt, ob er die Richterin mit "Obersturmbannführer" ansprechen solle. Inzwischen droht dafür ebenfalls Gefängnis, zumal Staatsanwältin Jekaterina Frolowa Nawalny Geschichtsfälschung und Verharmlosung der NS-Verbrechen vorwarf, was weitere Haftstrafen nach sich ziehen könnte.

Dabei wird es nicht bleiben. Schon jetzt laufen die Ermittlungen gegen Nawalnys "Fonds für Korruptionsbekämpfung" (FBK) wegen angeblichen Spendenmissbrauchs in großem Umfang. Der FBK hat mit diesen Spenden in den vergangenen Jahren Dutzende Recherchen über Korruption veröffentlicht. Die Staatsanwaltschaft wirft dem FBK vor, die Gelder zweckentfremdet zu haben. Das könnte Nawalny noch zehn Jahre Haft bescheren.

Nawalny werde erst freikommen, wenn auch Russland seine Freiheit erlange, prognostizierte der Schriftsteller Boris Akunin. Tatsächlich sind die Chancen auf eine Freilassung zumindest vor dem Ende der Amtszeit Wladimir Putins verschwindend gering. Und nach der Verfassungsänderung kann der russische Präsident nach derzeitigem Stand bis 2036 weiterregieren. (André Ballin aus Moskau, 21.2.2021)