Die freiheitsliebende Carmen (Anita Rachvelishvili) in Ekstase – an der Wiener Staatsoper.

Pöhn

Wer die Carmen-Inszenierung von Franco Zeffirelli liebgewonnen hat, die an der Staatsoper erstmals vor mehr als vier Jahrzehnten mit Plácido Domingo prunkte, muss in Hinkunft ein bisschen stark sein: Calixto Bieito führt ihn mit seiner Inszenierung in die Düsternis einer ruppigen Wirklichkeit. Bieito braucht für sein Sozialdrama, das vor etwa 20 Jahren das Licht der Welt erblickte, weder Folklore noch Ausstattungsglanz.

Die nebeldurchzogene Bühne kommt mit Telefonzelle, Fahnenmast und altem Mercedes aus. Wobei da auch eine umfallende Plakatwand ist, die einen Osborne-Stier darstellt (Bühne: Alfons Flores). Eine – nur angedeutete – spanische Grenzregion wird zur Arena der Existenzhärte mit besonderer Berücksichtigung einer tödlich scheiternden Liebschaft. Der Himmel scheint eher voller Messer statt Geigen: Schmuggler setzen Carmen die Klinge an den Hals. Soldaten plündern Münztelefone oder öffnen ihren Hosenstall, um (erfolglos) Damen zu einer handgreiflichen Gefälligkeit zu bewegen.

Faust für Carmen

Auch Don José, jener Carmen verfallene Uniformierte, der alles verlieren wird, wartet nicht bis zur finalen Demütigung durch die Freiheitsliebende, um seine Gewaltbereitschaft zu demonstrieren. Da wird schon in der konfliktreichen Verliebtheitsphase die Faust drohend Richtung Geliebte geballt.

Es ist an der leeren Wiener Staatsoper also eine verrohte, brutale und schnell auf ungemütlichen Körperkontakt umschaltende Welt zu erleben. Gesetze und Humanität führen in ihr ein Schattendasein wie Aussätzige. Selbst die bettelnden Kleinsten werden von ihren Müttern eiskalt für ein durch Brutalität geprägtes Dasein dressiert.

Gewisse Enttäuschung

Die Regie ist also nicht nur nahe an den Verhältnissen heutiger Grenzgegenden samt ihrer Flüchtlingsdramen. Bedauerlicherweise ist sie ihnen noch näher als zu jener Zeit, da Bieitos Arbeit entstand.

Dass sich dennoch eine gewisse Enttäuschung einschleicht, gründet in der plakativen Umsetzung mancher Ideen. Das Brutal-Reale wird oft trivial herausgekracht, ob als militärisch-autoritäre Peitschenknallerei oder derbe Grabscherei intendiert. Und wenn sich Carmen selbst mit einer roten Rose intim streichelt oder Soldaten die Telefonzelle besteigen, in der Carmen plaudert: Das ausreichend Deutliche wird gerne überdeutlich serviert.

Szenisch wenig inspiriert

Musikalisch ist der Abend weitestgehend ein Erlebnis. Anita Rachvelishvili bleibt szenisch zwar schablonenhaft. Sie verfügt als Carmen jedoch über eine imposante vokale Flexibilität und Reserven. Die Leichtigkeit ihres Gesanges drückt sich in einer geschmeidigen Legatokultur aus, die mit dunkler Vokaltönung betört und imposant ins Dramatische abhebt, um danach wieder einen subtilen Moment zu bewirken.

Es gibt natürlich auch das szenisch Wohldosierte; die Regie ist eine Berg-und-Tal-Fahrt zwischen Subtilität und Holzhammerästhetik. Zwischen Micaëla, die sonst in Inszenierungen als verliebtes Klostermädchen verharmlost wird, und Don José knistert es diesfalls richtig. Sie kann es mit Carmen aufnehmen, Don José behandelt sie als ernst zu nehmende Dame.

Hin und wieder gelingen übrigens auch Massenszenen: Jener kollektive Jubel, der Toreador Escamillo gilt (sehr engagiert der Staatsopernchor), zeigt packend, wie Gruppeneuphorie sogar an der Rampe effektvoll zu inszenieren ist. Und das Finale! Mehr zärtlich-mitleidig als herablassend erteilt Carmen – in einem weißen Kreis, der eine Stierkampfarena imaginiert – ihrem ehemaligen Herzensbuben selbstmörderisch die letzte Abfuhr.

Torero im Affekt

Wenn Don José, eine Art Torero im Affekt, Carmen den Hals aufschlitzt und ihre Leiche wegzieht wie die eines toten Stiers, ist es die nüchterne Darstellung eines grässlichen Vorgangs, der keiner szenischen "Zusatzwürze" bedarf. Gerade dieses Nüchterne (sonst einige Male vermisst) ist es, das große Wirkung hat. Der überragende Piotr Beczała lässt als Don José natürlich einiges vergessen. Eine profundere Verbindung von Intensität und tenoralem Glanz ist kaum vorstellbar.

Erwin Schrott als Escamillo klang vergleichsweise etwas unausgewogen, während Vera-Lotte Boecker als Micaëla nach anfänglicher Fragilität schließlich zu hoher Intensität fand. Drumherum durchwegs gute vokale Manifestationen, welche Dirigent Andrés Orozco-Estrada herzhaft antrieb. Natürlich musste er in einer leeren Staatsoper akustisch mitunter Grenzbereiche aufsuchen.

Und dann "Tristan"

In Summe allerdings gelang ihm eine schillernde Umsetzung der Partitur mit quirligen farblichen Details. Das Staatsopernorchester fusionierte dabei Klangnoblesse und spannende Darstellung, das sattsam Bekannte wurde emotional so hitzig wie kultiviert lebendig. Also ohne jene Derbheit, die Bieitos Regie mitunter leider beschwerte.

Dennoch gut, dass der Katalane nun endlich einmal da ist und auch wiederkommt. Nächste Saison inszeniert er abermals die Tragödie eines Pärchens, Wagners Tristan und Isolde. Hoffentlich durchgehend subtil.

(Ljubiša Tošić, 2.2.2021)