900 Meter tief reicht das Bohrloch durch das antarktische Filchner-Ronne-Schelfeis. Am Ende dieses Schachtes entdeckten die Forscher unerwartetes Leben.
Foto: Huw Griffiths/British Antarctic Survey

Eigentlich ging es den Forschern um Sedimentproben vom Meeresboden unter dem fast einen Kilometer dicken antarktischen Meereis, doch zumindest was das betrifft, hatten sie Pech. Die Wissenschafter des British Antarctic Survey (BAS) stießen bei ihren Bohrungen durch das Filchner-Ronne-Schelfeis nicht auf den erhofften Schlamm. Jedes Mal, wenn sie ihr Sammelinstrument für Bodenmaterial in das Bohrloch senkten und nach einer Stunde wieder emporholten, war es leer.

Erst als sich die Wissenschafter um Matt Simon die Filmaufnahmen aus der Tiefe genauer ansahen, wussten sie, wo das Problem lag: Sie hatten ihren schmalen Schacht durch das Eis offenbar direkt über einem großen Felsbrocken am Meeresboden gebohrt – einer von ganz wenigen, die sich dort am ansonsten flachen Meeresboden befinden.

Lebewesen, die dort nicht sein sollten

Die unglücklichen geologischen Bedingungen erwiesen sich allerdings als Glücksfall für den BAS-Biologen Huw Griffiths, der das Filmmaterial zu Hause in Großbritannien näher in Augenschein nahm: Es zeigte sich, dass sich dort auf dem Felsgestein, unter einem 900 Meter dicken Eispanzer, 260 Kilometer entfernt vom offenen Meer, bei absoluter Dunkelheit und Temperaturen von minus 2,2 Grad Celsius zahlreiche Lebewesen häuslich eingerichtet hatten: Wie Griffiths und seine Kollegen im Fachjournal "Frontiers in Marine Science" berichten, tauchten auf den Bildern Schwämme sowie andere nicht näher bestimmbare Kreaturen auf, möglicherweise Seepocken oder Röhrenwürmer, die die Oberfläche des Felsens besetzten.

Ein Felsen unter dem Schelfeis, mit dem man nicht gerechnet hatte. Für die Geologen eine Enttäuschung, für Biologen ein Glücksfall.
Foto: Huw Griffiths/British Antarctic Survey

"Es ist ein bisschen verrückt", erklärte Griffiths gegenüber dem "Guardian". "Nicht in einer Million Jahren wären wir auf die Idee gekommen, dort nach dieser Art von Leben zu suchen. Wir hätten niemals damit gerechnet, dass es dort existieren könnte."

Wenn Gletschereis über Festland schrammt, nimmt es manchmal Felsbrocken auf, die sich an der Unterseite des Eises vorübergehend festsetzen und weit weg vom Ufer wieder lösen und auf den Meeresboden sinken können. Offensichtlich bieten diese unterseeischen Findlinge Meereslebewesen eine Heimat, so unwirtlich die Umstände dort auch sein mögen. "Es gibt eine Vielzahl an Gründen, warum diese Wesen dort nicht sein sollten", sagt Griffiths.

Extremer Ort für Filtrierer

Zwar hatten Biologen zuvor schon Lebewesen wie beispielsweise Fische oder Krebstiere tief unter dem antarktischen Meereis beobachtet, aber diese Tiere waren mobil und konnten ihren Standort wechseln, wenn die Nahrungsquellen zu versiegen drohten. Schwämme und Seepocken hingegen haben diese Möglichkeit nicht. "Dies ist mit Abstand der extremste Ort unter einem Schelfeis, an dem wir filtrierende Lebewesen gefunden haben", sagte Griffiths. "Sie sitzen buchstäblich auf einem Felsen fest und ernähren sich allein von dem, was vorübertreibt."

Schwämme und andere, vorerst noch nicht identifizierte Lebewesen florieren unter dem antarktischen Meereis.
Fotos: Huw Griffiths/British Antarctic Survey

Wellenförmige Strukturen rund um den Felsen deuten darauf hin, dass hier eine Strömung für Nahrung sorgen dürfte. Analysen dieser Strömungen unter dem Schelfeis legen nahe, dass die nächstgelegene Nahrungsquelle – wahrscheinlich totes Plankton – zwischen 600 und 1.500 Kilometer entfernt liegt. Mit anderen Worten: Die für Schwämme und andere Lebewesen auf dem Felsen notwendigen Nährstoffe müssten Hunderte von Kilometern zurückgelegt haben.

Unbekannte Arten

Die Entdeckung wirft viele neue Forschungsfragen auf, die durch die BAS-Expedition nicht beantwortet werden können. Die Ausrüstung der Wissenschafter erlaubte es beispielsweise nicht, Proben von dem Felsbrocken zu entnehmen. Eine Klassifizierung der dort lebenden Schwammarten und anderen Tiere oder deren Nahrungsquellen bleibt also vorerst offen. Eine zukünftige Mission könnte allerdings mithilfe eines ferngesteuerten Unterwasserfahrzeugs in der Lage sein, DNA-Proben für weitere Untersuchungen zu sammeln.

Video: Unerwartete Entdeckung von Leben unter Extrembedingungen.
British Antarctic Survey

Die Wissenschafter könnten auf diesem Weg auch feststellen, wie und wann die Schwämme auf diesem bestimmten Felsbrocken gelandet sind. Besonders interessiert dabei die Biologen, ob die beobachteten Individuen Spezies angehören, die auch im offenen Ozean vorkommen oder ob sie für diese lebensfeindliche Umgebung einzigartig sind. (tberg, 22.2.2021)