Früher war zwischen vier und 20 Uhr Sperrstunde, jetzt für immer: Das Wiener Kellerlokal Nachtasyl ist nicht mehr.

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Kultur bedeutet nicht nur bildende Kunst, Führungen durch die Staatsoper oder Streaming aus dem Off-Theater. Kultur sitzt auch gern im Keller. Nächtelang. Nur wer nichts leistet, erfindet Neues. Im Keller entsteht schon seit Jahrhunderten Neues. Auch wenn sich im Keller augenscheinlich nichts verändert. Im Keller verändert sich eigentlich nie etwas. Der Keller ist immer neu.

Manche Leute gehen dort hin zum Lachen, andere haben unten eine Spielzeugeisenbahnanlage stehen. Viele gehen hin, um das Oben zu vergessen. Es gibt sicher auch vereinzelt Sauna oder Peitschipeitschi. Ein Wein oder eine zweite Familie werden auch sein. Wir aber werden nimmer sein. Zum Sterben geht der Österreicher auf den Dachboden. Im Keller aber, dort spielt das wahre Leben.

Das Wiener Lokal Nachtasyl war so ein Fall für den Keller. Man musste tief nach unten steigen und konnte dort den Tag oder die Jahre oben zu ebener Erd’ vergessen. Gefühlt offen hatte das Nachtasyl schon immer, obwohl es erstaunlicherweise erst 1987 eröffnet hat. Damals hat es schon beim Start ziemlich angeranzt ausgesehen. Man fühlte sich sofort zu Hause.

Tausende Nichtsnutze

Tausende Nichtsnutze haben seitdem dort unten im Keller in einer dunklen Gasse im sechsten Wiener Gemeindebezirk tatsächlich nächtelang ihre Jugend verhockt, versoffen, verschwendet. Und das mit Freude. Allerdings hat das Nachtasyl jetzt nach seiner offenbar erst unlängst geschehenen Eröffnung für immer seine Türen geschlossen. Die Fixkosten, der Mietzins, die Krise, die Pandemie, die fehlende staatliche Hilfe.

Man muss sich das als Außenstehender vorstellen. Selbst wenn man nie im Nachtasyl unten war – und wir alle kennen Leute, die eidesstattlich erklären können, dass sie nie, nie, niemals im Keller unten im Nachtasyl auch nur mit einem Glas Mineralwasser angefüttert worden wären –, und plötzlich war es oben aber schon wieder hell draußen: Das Nachtasyl hat jetzt für immer zugesperrt. Die Austrian Airlines fliegen mit Staatshilfe millionenschwer in die Sonne, das lichtscheue Volk lässt man ins ewige Dunkel stürzen. Das ist politisch gemeint.

Auch wenn wir alle eventuell schon seit Jahren nicht im Nachtasyl gewesen sind, also unlängst erst darüber gesprochen haben, dass uns das Nachtasyl gleich an dingster Stelle von allen Lokalen, die wir wegen Corona vermissen, eingefallen ist: Das Nachtasyl als Idee wird uns ebenso fehlen wie die ebenfalls in einem benachbarten Wiener Keller jüngst geschlossene Wiener Freiheit, aber anders. Freiheit und Asyl. Zwei Begriffe, die beispielhaft für ein Zeitenende stehen. Die Zeit nennt sich "früher".

Das Nachtasyl wurde ausgerechnet erst Anfang 2020 neu übernommen. Früher waren dort unten tschechoslowakische Langzeitstudenten oder -dissidenten zu treffen. Sie sind seit 1987 immer an der Bar an der gleichen Stelle mit dem immergleichen tschechischen Wirt gestanden. Der war Wirt, ließ also seine Kellner arbeiten. Die Schule des Lebens. Die Schule des Kellers.

Schlechter Fuß, früher Schlaf

Angeblich war der alte Wirt ein Busenfreund von Václav Havel. Der war früher angeblich öfters im Lokal. Es kann sich leider niemand daran erinnern. Aber fragen Sie die tschechischen Tschecheranten, die das Stiegensteigen noch halbwegs derblasen.

Für Leute mit schlechtem Fuß und frühem Schlaf gab es oben schon seit Jahren auch das sogenannte Tagasyl. Das hatte zwar in der Nacht auch offen, aber man konnte zur Beruhigung aus dem Schaufenster zumindest den Wechsel der Tageszeiten beobachten.

Pure Vernunft darf niemals siegen. Obwohl keiner von uns je dort einen Abend oder eine Nacht verbracht hat: Das Nachtasyl ist jetzt nicht mehr. Mit einer offiziellen Sperrstunde zwischen vier und 20 Uhr – und dann generell seit November 2020 – war kein tschechoslowakischer Staat mehr zu machen. Vielleicht wird es irgendwann einmal eine Neueröffnung geben. Wird es dann eine neue Einrichtung geben? Bessere Luft? Hat jemals irgendeiner dort etwas gegessen? Gab es dort überhaupt Essen? Wir alle kennen Leute, die jemanden kennen, die behaupten, dass es dort etwas zu essen gegeben hat.

Erinnerung ist nur eine Reifenspur im Sand. Das Nachtasyl hat seine letzte Sperrstunde gehabt. Ohne einen einzigen Gast hinauswerfen oder nach oben tragen zu müssen. Es wird uns fehlen. Wir selbst waren allerdings nie dort. Großes Pfadfinderehrenwort. (Christian Schachinger, 22.2.2021)