Gilt das jetzt? Schließlich habe ich laut App das Rennen nicht beendet – und scheine demzufolge nicht in der Ergebnisliste auf. Auch wenn das für den Lauf der Welt nur unwesentlich relevanter als der sprichwörtliche chinesische Reissack ist, war es im ersten Moment doch ein bisserl ärgerlich.

Weil Sascha und ich uns vermutlich weniger angestrengt hätten, wenn wir vergangenen Sonntag einfach irgendwelche Longrun runtergespult hätten: Sascha hätte ziemlich sicher nicht versucht, zum ersten Mal die Halbmarathondistanz in weniger als zwei Stunden zu laufen – und hätte mich wohl nicht gefragt, ob ich ihn dabei begleiten würde.

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Und ich wäre unter Garantie nicht auf die leicht hirnrissige Idee gekommen, zu schauen, ob – und falls ja wie – ich ohne Vorbereitung einen Marathon schaffe. Aber dann kam die Einladung des israelischen Tourismusverbands: Ob ich Lust hätte, den Tel Aviv Marathon zu laufen. Nein, man könne leider Läuferinnen und Läufer aus der ganzen Welt nicht einfliegen und impfen, lachte man auf meine sehnsüchtige Doppelfrage. Aber ein virtueller Lauf in/mit einer meiner vielen zweitliebsten Städte wäre doch auch was wert. Ich könne zwischen 5, 10, Halb- und Volldistanz wählen. Und 2022 ...

... wobei: Bei der aktuellen Impfgeschwindigkeit in Österreich dürfte auch das bei mir noch eher knapp werden.

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Egal. Denn im Hier und Jetzt ist das Leben ja auch nicht nur furchtbar – und genau um Belege dafür baten die Veranstalter vorab. Also taten mein Kumpel Sascha und ich, wie uns geheißen – und traten zum Carboloading dort an, wo das in Wien derzeit am besten geht: beim Demel. Über die Preise der Kinderportionen dort wird anderswo eh schon genug gelästert.

Aber weil "Kaiserschmarren to go am Kohlmarkt" weder Grundnahrungsmittel noch Trinkwasser noch Teil der medizinischen Grundversorgung ist, betone ich lieber zweierlei. Erstens: Ich kenne nur zwei bessere Schmarren (in meiner Lehrerfamilie sagt man "Schmärren") – und die gibt es nicht zu kaufen. Zweitens: Woher kommen die italienischen Shopping-Touristen, die ich bei meinen bisher zwei Kaiserschmarren-Expeditionen zum Kohlmarkt traf?

Weil, drittens: Ja, ich habe massiven Reise-Neid.

Nebenbei schafften es Sascha und ich mit unserem Schmarren-Video angeblich sogar für ein paar Sekunden in irgendeine israelische Nachrichtensendung: weltberühmt in anderswo …

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Aber fast noch einen Tick wichtiger als Carboloading ist beim Langstreckenlaufen das Langstreckenlaufen. Und auch wenn es bei einem virtuellen Rennen wurscht ist, wo man rennt, kann es da in Wien bei diesem Lauf nur einen Startplatz geben: den Tel Aviv Beach am Donaukanal. Der schaut zwar im Augenblick nur trist und nach gar nix aus – aber irgendwann wird das schon wieder. Hoffentlich. Das passt im Kontext eh.

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Normalerweise versuche ich auf langen Läufen eine halbwegs abwechslungsreiche Route zu finden. Ich halte nach Graffiti, Bekannten oder kleinen Erlebnissen am Wegesrand Ausschau.

Im Lockdown war und ist das Entdecken von sportlichen Aktivitäten abseits der gesperrten Sportplätze immer lohnend. So wie die Baseball-Familie hier knapp vor dem Lusthaus: 300 Meter weiter, am Vereinsplatz, verboten, aber hier legal. Obwohl ein gut geschlagener Baseball … Egal: Verstehen muss man das ja nicht.

Außerdem ging es heute um Saschas Plan: Der 47-jährige Wiener Jurist wollte den Halbmarathon "endlich" unter zwei Stunden laufen.

Bisher war er an sich gescheitert: Irgendwann, sagt er, falle er in seine Komfort-Pace – und ärgere sich danach.

Ich sollte also am Anfang bremsen und dann mit der Peitsche knallen. Oder mit dem Baseballschläger fuchteln. Und die Route planen.

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In Wien einen Halbmarathon (subjektiv) schnell laufen geht so: Man rennt einmal die Donauinsel ab. Je nach Windrichtung flussauf- oder -abwärts. Einfach. Fad. Außerdem kann man so nicht beim Tel Aviv Beach starten. Also ging es über Donaukanal und Hauptallee durch den unteren Prater wieder zum Kanal. Und dort gegen den zweitweise knackigen Wind weiter flussabwärts.

Windschattenlaufen ist keine Geheimwissenschaft: Wer seine Füße mit jenen des Vordermannes koordinieren will, wird ihm in die Hacken steigen. Synchronisiert man aber Ellenbogen- und Armbewegungen, geht es wie von selbst. "Geht überhaupt Wind?", fragte Sascha: Passt.

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Natürlich gibt es spannendere Runden. Aber nur fad ist es hier auch nicht: Geschichten kann man auch über diese Ecke erzählen. Etwa die, dass mir ein Fischer hier vor Jahren erzählte, die Kläranlage habe seine Fangquote "zerstört": Früher war, eh klar, alles besser.

Ich witterte einen Skandal: Kommen gar Dreck oder sogar Gift aus der Anlage?

Ganz falsch: "Seit die da ist, ist das Wasser so sauber, dass die Fisch’ weniger Futter finden. Drum gibt es weniger."

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Schnelle Routen sind flach. Eine "Steigung", hatte ich Sascha aber gesagt, würde es heute dennoch geben: rauf auf die Freudenauer Hafenbrücke. Ziemlich genau auf halber Strecke.

Dann rüber zum Kraftwerk. Ab dort würde ich ihn nicht auf der Insel, sondern am Donauufer laufen lassen und voll in den Wind stellen. In den Rückenwind und das für den Rest der Strecke: Südostwind ist in Wien eher die Ausnahme, meist pfeift der Wind die Donau runter.

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Meiner subjektiven Wahrnehmung nach kommt der Wind in den letzten zwei Jahren ja deutlich öfter von "unten". Das bestätigen mir Laufende und Radfahrende. Manche sagen, das sei der Klimawandel. Aber vermutlich ist das (die Häufung) eh nur Einbildung und die Klima-Mär in diesem Fall echter Vollholler.

Was nachweislich stimmt: Rückenwind taucht an. Ohne sich merklich mehr anzustrengen, war Sascha um 15 Sekunden am Kilometer schneller: Wenn er das Tempo hielt, würde der Stunt gelingen.

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Bei gutem Wetter hat man donauaufwärts schöne Blicke auf Wien. Heute aber gab es nur graue Suppe. Gut, um zu fokussieren. Sascha wurde wortkarger: Er trabte nicht mehr im Komfortbereich. Was da oft funktioniert: Ablenkung von den "Was soll der Scheiß?"-Signalen des eigenen Körpers.

Also erzählte ich. Etwa von den Schnellbooten der "Marina". Die haben sonst nur Navy-Seals und Co. Österreichs "Marine" fährt Tretboot, während Zivilisten mit diesen komplett sinnfreien, aber superlustigen Spaßbooten wellenhüpfen. Es gibt aber ein Bundesheervideo, in denen das Jagdkommando mit diesen 900-PS-Booten unterwegs ist. Zu erwähnen, dass die vom "Bootsverleih" stammen, wird darin vor lauter Action-Freude halt vergessen.

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Ein paar Kilometer weiter flussaufwärts gibt es die nächste "Schiffsgeschichte": Knapp unterhalb der Reichsbrücke hat die Wiener Wasserpolizei ihr Hauptquartier. Hier wird auch "Soko Donau" gedreht. Und der historische Hafenkran aus der Zeit des 1875 errichteten "Stromhafens", der vor ein paar Jahren noch türkis war, steht angeblich nur als Foto- und Filmkulisse hier. Ob das wirklich stimmt? Keine Ahnung. Aber das pittoreske Teil taucht oft in Fotoagenturen auf – stets ohne Last.

Mich erinnert der Kran immer an eines meiner liebsten Kinderbücher: Jan Lööfs "Großvater ist Seeräuber" – auch wenn das wegen (heute) politischer Inkorrektheit kaum mehr zu bekommen sein soll.

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Sascha kämpfte. Auch wenn er es selbst noch nicht spürte, war er "auf Anschlag". Sobald ich aufhörte, Druck zu machen, wurde er langsamer – ohne es zu merken. Die Zeit begann knapp zu werden. Mit freundlichem Plaudern war nicht mehr viel zu holen. Also änderte ich ab der Reichsbrücke den Ton.

Sollten Sie zu den Passanten gehören, die uns auf den letzten Kilometern leicht entsetzt anschauten, versichere ich Ihnen: Im wirklichen Leben brülle ich Menschen nicht an. Schon gar nicht mit diesen Worten.

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Aber was wirkt, gilt: Sascha kam "Sub 2" über die Halbmarathonmarke. Auch wenn das die Race-App nicht so sah. Die hatte eine Stunde zuvor bei uns beiden (fast zeitgleich) zu spinnen begonnen. Der Versuch, sie wieder zum Laufen zu bringen, hatte zuerst Zeit und dann Saschas Motivation vernichtet: Sascha "trackt" mit einer Gratis-App am Handy. Heute hatte er sich auf die ausgefuchste Race-App der Veranstalter verlassen. Ohne mein "scheiß drauf, du machst das jetzt", hätte er vielleicht das Handtuch geworfen.

Enttäuscht laufen kostet. Ich weiß genau, wo noch ein paar Minuten liegen. Aber das war jetzt vergessen: 1:58:55. "Du kannst das! Punkt."

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Und ich? Natürlich hätte ich jetzt auch heimfahren können. Aber irgendwie juckte es mich doch: Ich hatte mich für die Volldistanz angemeldet. Obwohl ich alles andere als sicher war, 42 Kilometer derzeit (oder überhaupt noch) draufzuhaben: Corona dauert bei mir schon fünf Kilo.

Ohne "echte" Bewerbe in Blickweite trainiere ich eh, aber doch nur halbherzig. Dass ich älter werde, sehe ich im Spiegel – und auf der Uhr: Ich werde langsamer. Brauche mehr Zeit zur Regeneration. Das ist normal. Damit kann ich umgehen. Meistens.

Außerdem weiß ich, dass ich nicht ständig beweisen muss, was ich kann. Auch und vor allem mir selbst nicht: Das hat auch viel Gutes.

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Andererseits war das Wissen, dass der Anlass (das App-Rennen) auch für mich vorbei war, nicht gerade motivierend: Es war zwar kalt, aber eigentlich perfektes Laufwetter. Aber nassgeschwitzt noch einmal gegen den Wind einen zweiten Halbmarathon dranhängen? Allein? Auf einer Strecke, die heute eher nix zu bieten hat?

Ich war knapp dran, den Rucksack abzunehmen, das nasse gegen ein trockenes, warmes Shirt und die Regenjacke zu wechseln und zur U-Bahn zu traben.

Aber eben nur knapp: Sascha hatte sein Ding ja auch durchgezogen.

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Zugegeben: Wirklich lustvoll war der zweite Halbmarathon nicht. Allerdings zunächst auch nicht beschwerlich: Ich trabte locker dahin, vermied es, zu nah an Orten der Versuchung – also U-Bahn-Stationen – vorbeizukommen und hielt mich auf der Insel deshalb nahe am Donauufer. Auf der Hauptallee, nach rund 36 Kilometern, lief es nimmer ganz rund. Aber am "Dorfplatz" aufgeben, wenn alle paar Minuten Freunde vorbeikommen? Würden Sie ja wohl auch nicht.

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Und dann, zurück in der City, wegen der letzten drei dann doch jämmerlichen Kilometer darauf zu verzichten, sich selbst sagen zu können, dass das geht, was Sie sich in der Früh vorgenommen haben? Geht gar nicht.

Erst recht nicht, weil Sie auf dem Rest der Route eine dringende Bitte der Veranstalter endlich erfüllen können: Bilder mit "Iconic Views" ihrer Heimatstadt zu machen – und nach Tel Aviv zu schicken, nämlich.

Auch um "All Running Together Separately" von der Floskel zur Botschaft zu machen: die, dass es immer einen Weg gibt, die Freude an dem, was man liebt, nicht zu verlieren.

Egal ob es ums Laufen oder ganz etwas anderes geht.

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Deshalb ist es auch nicht schlimm, dass ich nicht im Gesamtergebnis aufscheine. Zeit, Rang und Platzierung sind mir sowieso egal. Und individuelle Leistungen sind – gerade bei virtuellen Läufen – sowieso nie mit denen anderer Läuferinnen und Läufer anderswo vergleichbar.

Für Sascha wäre es halt fein, wenn seine "PB" (persönliche Bestleistung) irgendwo "offiziell" aufschiene – obwohl er Sonntagabend dann schon anderswo war: Nun sei "der Ganze" fällig. September. Wien. "Glaubst Du, geht sub 4?"

Genau darum war es gegangen: Ich hatte mir vorgenommen, einem Freund zu helfen, sich einen Traum zu erfüllen.

Jetzt ist Zeit für den nächsten Traum.

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Der Tel Aviv Marathon war dafür ein willkommener, ein perfekter Anlass. Ein guter Auslöser. (Nebenbei: Praktischerweise hatten die Veranstalter die Finishermedaillen schon bei der Anmeldung geschickt.)

Aber da ist noch etwas.

Noch ein Traum.

Der, dass wir alle wieder gemeinsam laufen, lachen, leben werden.

Nächstes Jahr.

Nicht, wie es im Judentum heißt, "in Jerusalem" – sondern in Tel Aviv.

Und überall anders auch.

(Tom Rottenberg, 23.2.2021)

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