Die detaillierten Aquarelle hatten mitunter die Körper von Personen als Vorlage, die als politisch Verfolgte hingerichtet wurden.

Foto: Josephinum – Ethik, Sammlungen und Geschichte der Medizin, Med-Uni Wien

Eine besondere Sammlung von mehr als 400 anatomischen Illustrationen wurde der Medizinischen Universität Wien zuteil: Es sind die Originalabbildungen des mehrbändigen Pernkopf-Anatomieatlas, dessen erste Auflage zwischen 1937 und 1960 erschien. Dieser Atlas war international in Fachkreisen bekannt für seine detailgetreue Bebilderung – später aber vor allem für seinen Autor Eduard Pernkopf und für mutmaßliche Vorlagen einiger Abbildungen.

Der glühende Nationalsozialist Pernkopf wurde mit dem sogenannten "Anschluss" an Deutschland zum Dekan der medizinischen Fakultät, die damals noch zur Universität Wien zählte, und war 1943 bis 1945 Rektor der Universität.

Als Vorlage für die Bilder in Pernkopfs "Topographischer Anatomie des Menschen" dienten aller Wahrscheinlichkeit nach auch Opfer des NS-Regimes, wie eine von der Uni Wien eingesetzte Historikerkommission 1998 in ihrem Endbericht darlegte.

Mindestens 1377 Leichen von Personen, die am Landesgericht exekutiert wurden, gelangten an das anatomische Institut. Unter ihnen befanden sich viele politisch Verfolgte. Hinzu kamen tausende Verstorbene aus öffentlichen Krankenanstalten – einschließlich psychiatrischer Einrichtungen, an denen "Euthanasie" an angeblich lebensunwerten Menschen praktiziert wurde.

Eduard Pernkopf war Anatom und Rektor der Universität Wien. Ab dem "Anschluss" Österreichs 1938 ging er täglich in NS-Uniform zur Arbeit.
Foto: Josephinum – Ethik, Sammlungen und Geschichte der Medizin, Med-Uni Wien

"Eine individuelle Zuordnung ist fast unmöglich", sagt Herwig Czech, Professor für Geschichte der Medizin an der Med-Uni Wien. Die Leichen wurden bei der Übernahme durch die Anatomie anonymisiert, ein Bombentreffer 1945 zerstörte außerdem viele Unterlagen. Es gebe aber eine große Zahl von Justizopfern, die nachweisbar ans Institut gebracht wurden: "Zumindest einige Präparate, die 1998 noch vorhanden waren, konnten wir inzwischen auch namentlich zuordnen." In dieser Richtung soll weiter nachgeforscht werden.

Signatur mit Hakenkreuz

Außerdem konnte man bestimmte Illustrationen vom Zusammenhang mit NS-Opfern ausschließen, nämlich jene, die vor 1938 erstellt wurden. "Die Originale zeigen uns teilweise genaue Entstehungsdaten – da ist es möglich, bestimmte Bilder in diesem Aspekt als unproblematisch freizugeben."

Selbst bei diesen bleibt aber der Zusammenhang mit Pernkopf, wie Czech betont. Der Anatom wurde bereits 1933 Mitglied der NSDAP und kurz darauf der SA – letzteres zu einer Zeit, als die Organisationen in Österreich offiziell so verboten waren wie das Hakenkreuz. Das hielt den ersten am Atlas beteiligten Maler, Erich Lepier, nicht davon ab, seine Bildsignatur mit einem Hakenkreuz zu versehen.

Verlorene Bilder

Lepier war im Gegensatz zu anderen Künstlern und Künstlerinnen der Gruppe kein ausgebildeter "akademischer Maler", sondern Autodidakt. Mit seinen präzisen Darstellungen trug er wesentlich zur hohen Qualität bei, die Pernkopf forderte und für die dieser sich selbst mit 18-Stunden-Arbeitstagen einsetzte.

Ganze 925 Illustrationen kamen für die Bände der Erstausgabe zusammen – größtenteils farbige Aquarelle, die präparierte Leichname als direkte Vorlage hatten: "Ein Projekt, das heute wahrscheinlich kaum von einem Verlag zu finanzieren wäre", so der Medizinhistoriker. "Außerdem wären kaum mehr derart spezialisierte Maler und Malerinnen zu finden."

2003 gingen die ausschließlichen Rechte an den Bildern an den wissenschaftlichen Verlagsriesen Elsevier. Im Zuge der Schenkung an die Universität stellte der Verlag zudem 30.000 Euro zur Erschließung und Digitalisierung der ethisch sensiblen Sammlung zur Verfügung.

Wie Czech und seine Koautoren in einem aktuellen Beitrag im Fachjournal "Annals of Anatomy" schreiben, gab es freilich einen großen Verlust zu verzeichnen: War die Sammlung der Originalbilder bei der Analyse von 1998 noch vollständig, ist aktuell mit 417 Werken nicht einmal die Hälfte übrig. "Offenbar sind bei einem Verlagsumzug vor einigen Jahren ganze Kisten mit Bildern verloren gegangen", sagt Czech. "Wir hoffen, dass sie sich noch finden lassen."

Dauerausstellung ab 2022

Auch nach 1945 wurden am anatomischen Institut noch Körper aus der Zeit des NS-Regimes verwendet. Bis 1960 führten die beteiligten Künstler die Arbeit am Atlas fort.
Foto: Josephinum – Ethik, Sammlungen und Geschichte der Medizin, Med-Uni Wien

Der Atlas wurde seit 1994 nicht mehr neu aufgelegt, seine Benützung ist seit Jahren umstritten und teilweise untersagt – obwohl die Exemplare weiterhin in Bibliotheken und privat verfügbar bleiben. Elsevier hat keine Lizenzen zur Verwendung einzelner Illustrationen erteilt. Dadurch war allerdings auch eine zeitgeschichtliche Auseinandersetzung erschwert.

Vor allem letztere soll nun einfacher werden – und in der neuen Dauerausstellung des Josephinums ab 2022 einen festen Platz einnehmen. Eine Einbettung, bei der die unfreiwilligen Körperspender und Opfer des NS-Regimes gewürdigt werden, soll zentral sein, sagt Czech. Und: "Die anatomischen Illustrationen sind in erster Linie als historische Dokumente zu betrachten und nicht mehr als medizinisches Lehrmaterial." Eine Neuveröffentlichung als anatomische Ressource steht nicht zur Debatte.

Schwierige Frage

"Die generelle Frage, ob man wissenschaftliche Ergebnisse nützen darf, die auf unethischer Grundlage zustande gekommen sind, ist nicht eindeutig zu beantworten", ergänzt die Direktorin des Josephinums, Christiane Druml, die den Unesco-Lehrstuhl für Bioethik an der Med-Uni Wien innehat.

"Prinzipiell erfordert eine gute Wissenschaft immer eine gute ‚Ethik‘. Manche sagen, man würde sich zum Komplizen machen, wenn man unethische Ergebnisse nutzt." Dabei müsse man aber differenzieren, denn unter bestimmten Umständen können auch unethisch zustande gekommene Ergebnisse wissenschaftlich wertvoll sein und einen direkten Überlebensnutzen für einzelne Personen bringen. "Das kann aber nur im Einzelfall entschieden werden, müsste alternativlos sein, und dann muss die Herkunft und Entstehung dieser Erkenntnisse eindeutig und transparent offengelegt werden." (Julia Sica, 23.2.2021)