Nur eineinhalb Mal so groß wie Wien, liegt das Kathmandu-Tal eingekesselt von Hügeln und hohen Bergen in den nepalesischen Midlands und war einst von allen Seiten her nur schwierig zu erreichen. Und trotzdem wurde dieses Gebiet im frühen Mittelalter zu einem der bedeutendsten Knotenpunkte in den ökonomischen und kulturellen Netzwerken zwischen dem indischen Subkontinent und den Großreichen in Tibet und China. Die Region trug dadurch wesentlich zur Verbreitung und Bewahrung früher hinduistischer, buddhistischer und tantrischer Religionsformen bei, die auch die lokalen Kulturen und Gesellschaften bis heute nachhaltig prägen.

Mein derzeitiges vom FWF finanziertes Forschungsprojekt widmet sich der Dokumentation und Rekonstruktion der politischen, gesellschaftlichen und religiösen Entwicklungen, die zu dieser Blütezeit im Kathmandu-Tal geführt haben. Eine der Hauptquellen dafür sind die frühesten erhaltenen schriftlichen Zeugnisse, nämlich Steininschriften, die ab dem 3. Jahrhundert in Sanskrit verfasst wurden. Sie umfassen administrative und königliche Edikte, aber auch religiöse Schenkungen an Tempel und Religionsgemeinschaften oder Verse der Götterverehrung. Erstmals werden diese Inschriften systematisch dokumentiert, philologisch und interdisziplinär analysiert sowie auch für eine Datenbank aufbereitet. Das geschieht in Zusammenarbeit mit dem Department of Archaeology in Durham, dem Oriental Institute in Oxford, dem Center for Interdisciplinary Research and Documentation of Inner and South Asian Cultural History in Wien sowie dem Department of Archaeology und den National Archives in Kathmandu.

Die Feldforschung und interdisziplinäre Auswertung auch neu entdeckter Inschriften und archäologischer Funde hat schon jetzt einige unerwartete Erkenntnisse über historische und gesellschaftliche Entwicklungen gebracht, die bisher im Dunkeln lagen.

Die Licchavis und die Einführung der Sanskrit-Kultur

Die Sanskrit-Kultur scheint mit der Herrschaft der Königsfamilie der Licchavis im Kathmandu-Tal ab circa dem 3. Jahrhundert Fuß zu fassen, wo erstmals eine königliche Statue mit einer Sanskrit-Inschrift versehen wird. Die genauen Umstände, die zur Einwanderung der Licchavis führten, sind unklar, vermutet wird eine Verwandtschaft mit dem Licchavi-Clan in Indien, der zur Zeit Buddhas in der Gegend um Patna in Bihar lebte. Der kulturelle Einfluss aus dem Süden ist in den Inschriften allgegenwärtig, er zeigt sich bei den verehrten Göttern und Riten, königlich geförderten hinduistischen und buddhistischen Gemeinschaften, der Zeitrechnung und der gesellschaftlichen Organisation. Obwohl in den Inschriften festgehaltene Toponyme und einzelne Erwähnungen von indigenen Gruppen auf Mehrsprachigkeit und Multiethnizität im Königreich hinweisen, blieb Sanskrit bis zum Ende des ersten Jahrtausends die offizielle Amtssprache.

Ein Kultobjekt, das den Hindu Gott Śiva repräsentiert (Śivaliṅga), mit einer Inschrift, die von der nepalesischen Prinzessin Vijayavatī im Jahr 505 n. Chr. in Auftrag gegeben wurde.
Foto: nina mirnig

Internationale Beziehungen: Aufschwung im 7./8. Jahrhundert

Zu konkreten Beziehungen des nepalesischen Königreichs mit den südlichen Nachbarn, über die bislang kaum etwas bekannt war, geben jetzt aktuelle Entdeckungen und Analysen neue spannende Einsichten: Aus einer frisch entzifferten Inschrift geht hervor, dass die Königsfamilie in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts eine eheliche und militärische Allianz mit dem indischen Rāṣṭrakūṭa-Königreich einging, dessen Herrschaft sich zum Höhepunkt über weite Teile Indiens – von Uttar Pradesh bis Karnataka – erstreckte. Kurz davor fand auch eine Eheschließung des nepalesischen Königs Śivadeva mit einer Maukhari-Prinzessin aus Magadha statt. Solche Beziehungen dürften den kulturellen Austausch befördert haben, und es ist daher wahrscheinlich kein Zufall, dass die frühesten erhaltenen Palmblatt-Manuskripte von wichtigen Sanskrit-Werken, die ins Kathmandu-Tal gebracht oder dort kopiert wurden, bis ins 8. Jahrhundert datieren.

Ausschnitt aus der neu entdeckten königlichen Inschrift aus dem Jahr 748 n. Chr., die von der militärischen Allianz mit den indischen Rāṣṭrakūṭas erzählt.
Foto: nina mirnig

Schon zuvor dürfte das Kathmandu-Tal einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt haben: Im frühen 7. Jahrhundert bewirkte die Stabilisierung der Transhimalaya-Region durch die Etablierung des tibetischen Reiches und der chinesischen Tang-Dynastie, dass Händler, Diplomaten sowie auch Pilger häufiger das Kathmandu-Tal als Transitroute zum indischen Subkontinent nutzten, statt entlang der Seidenstraße zu reisen. Wachsende Handelsbeziehungen führten zu Reichtum und Wohlstand im nepalesischen Königreich, was sich auch in der Entwicklung der Siedlungsmuster widerspiegelt. So ergaben interdisziplinäre Analysen, dass in Inschriften einst kleine Dörfer zu größeren und eigenständigen Stadteinheiten ernannt wurden, wie das Dorf Dakṣiṇakoligrāma im Gebiet des heutigen Kathmandu. Neue Datierungen von archäologischen Ausgrabungen bestätigen, dass auch genau zu dieser Zeit monumentale Bauten in Angriff genommen wurden, wie das legendäre Kasthamandap-Gebäude, das durch das Erdbeben von 2015 zum Einsturz kam.

Foto: nina mirnig
Die Sanskrit-Stein-Inschriften müssen gesichert werden.
Foto: nina mirnig

Inschriften in Gefahr

Trotz ihrer historischen Signifikanz – und auch ihrer Bedeutung für die lokale Bevölkerung als Teil des Weltkulturerbes – sind diese Inschriften im Kathmandu-Tal derzeit äußerst gefährdet, da sie noch häufig vor Ort und oft mitten im urbanen Gebiet zu finden sind. Durch die wachsende Modernisierung und die Bautätigkeit seit den 1970ern sowie wegen der teils unkontrollierten Wiederaufbauarbeiten nach dem verheerenden Erdbeben 2015 sind schon viele Inschriften verloren gegangen, verlegt oder zerstört worden. Teil unserer Arbeit ist es daher, in Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden und auch direkt mit den lokalen Gemeinschaften zu versuchen, Wege zu finden, um Inschriften vor Ort zu schützen. Die aus dem Projekt resultierende Datenbank soll auch helfen, dieses wertvolle Kulturerbe für kommende Generationen zu dokumentieren und bewahren. (Nina Mirnig, 24.2.2021)