Die Proteste gegen die Abschiebung der zwölfjährigen Tina nutzten nichts: In der Nacht von 27. auf 28. Jänner wurde sie mit ihrer Familie nach Georgien abgeschoben.

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Ahmed* schläft wenig. "Wenn ich Geräusche höre, die Nachbarn, ein Auto, dann stehe ich auf." Er gehe dann in der Wohnung herum, sagt er im Gespräch mit dem STANDARD. Ahmed denkt dann vor allem an eine Sache: Er fürchtet, dass die Polizei kommt und ihn und seine Familie aus dem steirischen Admont abholt und nach Tschetschenien abschiebt. Seit über acht Jahren lebt er in Österreich. Seine drei Kinder sind hier geboren. Ende September 2020 hat die fünfköpfige Familie die Rückkehrentscheidung der Behörden erhalten.

Auch Lamin spricht über schlaflose Nächte. "Jede Minute kann die Polizei kommen und dich abschieben." Der 40-Jährige ist 2007 von Gambia nach Österreich geflüchtet. In seinem Herkunftsland war er Journalist bei einem regierungskritischen Radiosender. Damals wusste er nicht, dass es 13 Jahre lang dauern würde, bis die österreichischen Behörden über seinen Aufenthaltsstatus entscheiden würden.

Auch was Tina und ihre Familie lange gefürchtet hatten, trat nachts ein: Polizeibeamte holten sie vor einem Monat ab, sie wurden nach Georgien abgeschoben. Der Fall um das zwölfjährige Mädchen löste heftige Diskussionen aus, stürzte die Regierungskoalition in eine Krise. Während die einen der Mutter vorwarfen, das Asylrecht missbraucht zu haben und für eine Abschiebung eintraten, argumentierten andere, dass das Mädchen in Österreich geboren und aufgewachsen sei und hier bleiben solle. Doch wie leben Betroffene im jahrelangen Schwebezustand ohne regulären Aufenthaltstitel? Was hat die Diskussion um Tina und ihre Familie mit ihnen gemacht?

Vergiftetes Kompliment

Ein Argument, das Befürworter des Bleiberechts für Tina und ihre Familie immer wieder einbrachten, war ein vergiftetes Kompliment: Die Familie sei doch so gut integriert. Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) fasste wohl das Sentiment vieler zusammen, als er sagte, dass er für das Abschieben von "Gfrastern, aber nicht von gut integrierten jungen Menschen" sei.

Den Druck, sich als möglichst gut integriert zu präsentieren, spüren Asylsuchende. Ahmed erzählt ungefragt zu Beginn des Gesprächs, dass er in den vergangenen Jahren ehrenamtlich und gemeinnützig gearbeitet hat. Der 34-Jährige schildert ausführlich Arbeitszeiten, wie lang seine Mittagspause war und dass er genau wie seine Kollegen gearbeitet habe.

Integration, die ins Leere führt

Zwiegespaltener zeigt sich Margarethe. Sie betont zwar auch, dass ihr afghanischer Lebensgefährte unbescholten sei. Die Supermarktangestellte spricht über seine guten Sprachkenntnisse und dass er sich bemühe, Kontakte in Österreich zu knüpfen. Dass die Anstrengungen, sich zu integrieren, ins Leere führen, weiß die 39-jährige Steirerin aber selbst: "Im Endeffekt ist es kein Grund für Asyl, dass du dich gut integriert hast." Das hat sich auch im Fall Tina wieder gezeigt.

Fluchtursachen wie Folter oder Verfolgung aufgrund von Religion zählen für das Urteil der Behörden mehr. Im Falle ihres 30-jährigen Lebensgefährten reicht es aber nicht, dass einige seiner Familienmitglieder durch die Taliban verletzt oder getötet worden sind. Nach sechs Jahren in Österreich steht der Afghane nach einem zweiten negativen Asylbescheid kurz vor der Abschiebung. Expertinnen und Experten betonen immer wieder – zuletzt das VIDC unter Berufung auf die Erfahrungen von Rückkehrenden –, dass Afghanistan nicht sicher sei und dorthin nicht abgeschoben werden sollte. Die EU-Staaten sehen es anders und schieben zumindest in bestimmte Regionen ab.

"Arbeiten und ruhig bleiben"

Weder Ahmed noch Margarethe wollen viel darüber sprechen, was passiert, wenn die Abschiebung tatsächlich erfolgt. Er denke ständig daran, sagt Ahmed lachend. Während des Gesprächs lacht er immer wieder, auch an Stellen, an denen er über schmerzhafte Erlebnisse spricht. Der Tschetschene erklärt: "Ich lache, wenn es schwer ist für mich – um nicht weinen zu müssen." Statt über eine Rückkehr nach Tschetschenien zu sprechen, erzählt Ahmed lieber, was er machen würde, wenn er mit seiner Familie doch noch in Österreich bleiben könnte: "Arbeiten und ruhig bleiben."

Margarethe, die während des Gesprächs eher wie eine Juristin als eine Supermarktmitarbeiterin spricht, wird am Ende des Gesprächs nachdenklich. "Ich bin nicht reich", sagt sie, "aber ich komme für ihn auf." Sie bittet die Behörden um nur "ein bisschen Zeit". Ihre letzte Frage ist: "Warum darf er nicht bleiben?"

Lange Verfahren, viele Einsprüche

Lamin darf bleiben. Nach 13 Jahren und zahlreichen Anträgen und Einsprüchen in Österreich hat er im August 2020 seinen positiven Bescheid erhalten. Langes Warten ist keine Seltenheit: Im vergangenen Jahr dauerten in Wien mehr als 90 Prozent der Asylverfahren bereits über ein Jahr an. In diesem Zeitraum haben die Asylwerbenden – Lamin also für 13 Jahre – nur sehr eingeschränkt Zugang zum Arbeitsmarkt, Hilfsarbeiten oder selbstständige Arbeit gehören zu den wenigen Möglichkeiten.

Auch Lamin hat – wie Tinas Familie – zuvor mehrfach einen negativen Bescheid bekommen. Seit Jahren werden rund 40 Prozent der Entscheidungen des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) in zweiter Instanz aufgehoben oder abgeändert. Auch Lamins Rechtsberaterin erhebt Einspruch gegen einen negativen Bescheid, das Bundesverwaltungsgericht stimmt der Beschwerde schließlich zu, er darf nun legal in Österreich leben. Der 40-Jährige lacht zum einzigen Mal während des Gesprächs, wenn er davon erzählt: "Mir geht es heute sehr gut, wirklich sehr gut."

Doch unbeschwert ist er immer noch nicht. "Die Angst war jahrelang da, mein Bleiberecht habe ich erst vor ein paar Monaten bekommen", sagt er, wieder ernst. Er hofft, bald eine Arbeit zu finden, "ganz egal, als was". Seine Hoffnung: "Wenn ich einen Job, eine Wohnung habe, dann habe ich ein neues Leben". Nach kurzem Nachdenken fügt er hinzu: "Dann wird die Angst weggehen." (Ana Grujić, Noura Maan, 28.2.2021)